Oscar-Favorit Paul GiamattiSein Schauspiel macht uns sogar den fiesen Ekel-Lehrer sympathisch
Der grossartige Darsteller spielt wunderbar im Drama «The Holdovers» – und erzählt, weshalb es nötig ist, dafür wie ein Fisch zu stinken. Eine Begegnung.
Kürzlich in Los Angeles. Paul Giamatti bekommt den Golden Globe als bester Darsteller für seine Rolle als Lehrer in «The Holdovers». Er schaut sich die Statue an und sagt: «Das ist ganz bestimmt das erste Mal, dass dieser Preis an einen Mann geht, der wie ein Fisch stinkt.» Applaus für den Gewinner, der ab sofort auch Oscar-Favorit ist.
Ein paar Wochen zuvor, in einem Hotelzimmer in London. Small Talk, «hat es geschneit in der Schweiz?», will Paul Giamatti wissen. Aber der Gestank ist auch da. Nicht wirklich, selbstverständlich, aber im Gespräch ist er bald ein Thema. «Es ist nicht so, dass ich meine Körperpflege vernachlässigt hätte in der Rolle», erzählt der Schauspieler. Aber die Vorstellung, dass dieser Lehrer nicht gut dufte, habe ihm stark geholfen beim Erarbeiten der Figur. «Am Schluss habe ich meinen Gestank sogar tatsächlich gerochen. Zum Glück als Einziger im Raum.»
Die Schüler zur Schnecke machen
Der Lehrerfilm «The Holdovers» ist mit Abstand das beste Weihnachtsmärchen der letzten Jahre (das bei uns bizarrerweise erst Ende Januar anläuft). Es ist warmherzig, witzig, voller Figuren, die einem ans Herz wachsen. Auch wenn es vermeintliche Ekel sind wie dieser Lehrer, der seine Schüler – es ist eine private Highschool für Knaben – sogar in der letzten Lektion vor den Festtagen so richtig zur Schnecke macht. Zwar in liebenswürdigstem Ton, aber unerbittlich.
«Mister Giamatti, ich kannte einen Lehrer wie Sie!» «Ja, das höre ich oft. Ich kannte auch so einen. Wer nicht?»
Wer nicht? Ganz grosse Kunst ist es, wie Paul Giamatti aus diesem Ekelpfropfen, der nichts durchgehen lässt, einen letztlich doch sympathischen Mann macht. Der Schauspieler hat dafür eine einfache Erklärung: «Meine Figur ist nicht nett, nein, überhaupt nicht. Aber tief im Herzen ist sie ein gütiger Mensch, der zwar auf seinen Prinzipien reitet. Aber sich durch nichts und niemanden verbiegen lässt.»
Das gilt auch für ihn selber: Paul Giamatti, 56 Jahre alt, ist eine feste Grösse in Hollywood, schon jahrzehntelang dabei. Aber er ist bescheiden geblieben. Darum schiebt er sofort nach, dass nicht er diese Unterscheidung zwischen nett (nice) und gütig (kind) erfunden habe: «Diese Definition ist von Alexander dem Grossen!»
Damit ist Alexander Payne gemeint, der US-Regisseur von Filmen wie «The Descendants», «Nebraska» und jetzt eben «The Holdovers». Giamatti schwärmt in den höchsten Tönen von ihm. Schliesslich hat Payne vor 20 Jahren ihm bereits eine andere Traumrolle auf den Leib geschrieben: den Weinkenner und verkannten Schriftsteller in «Sideways».
Wir erinnern uns: In diesem Film ging es um die Weinreise zweier Männer ins Napa Valley. Der eine, ein Schürzenjäger, will sich noch einmal richtig austoben, vor der Hochzeit. Der andere, eben gespielt von Giamatti, will seinen Freund in die Kunst des guten Weins einweihen. Unvergesslich, wie er einmal schreit: «Nein, ich trinke keinen verdammten Merlot.» Und wie er einer Frau die Vorzüge des Pinot noir schildert und das zärtlicher klingt als die schönste Liebeserklärung.
«Mister Giamatti, werden Sie auf der Strasse immer noch als Weinkenner angesprochen?» «Oh ja, ständig. Kürzlich hat mir jemand eine Flasche gezeigt und wollte wissen, ob sie zu teuer war. Alle wollen Tipps. Dabei sage ich immer wieder: Ich habe keine Ahnung von Wein, hatte es nicht vor den Dreharbeiten zu ‹Sideways› und habe, trotz des Films, immer noch keinen blassen Schimmer davon.»
Bei «The Holdovers» ist das anders. Der sture Lehrer interessiert sich darin für nicht viel ausser für die alten Griechen. Die sind eine Art Hobby von Giamatti, Ausgrabungen und Götterlinien kennt er auch: «Ich lese viel und würde einen Schultest sofort bestehen», sagt er.
Und überhaupt, der Lehrerberuf liegt bei ihm sozusagen in der Familie, die allermeisten seiner Vorfahren haben unterrichtet. «Ich war schon in meiner Kindheit mit meinen Eltern in Vorlesungssälen und Klassenzimmern. Und weiss, wie schwierig dieser Beruf ist.» Den Golden Globe widmete er in seiner Rede deswegen allen Lehrerinnen und Lehrern. «Die vollbringen Wunder. Es ist ein harter Job.»
Was er mit dem Auge macht, ist ein Staatsgeheimnis
«Mister Giamatti, Sie sagen oft, Sie seien kein richtiger Hauptdarsteller. Das können Sie nach diesem Erfolg nicht mehr behaupten, oder?» «Doch, kann ich. Ich spiele gerne, habe auch nichts dagegen, im Zentrum zu stehen. Ein richtiger Hauptdarsteller muss aber auch eine Art Rädelsführer sein, alle mitreissen. Für mich sind Filme wie ‹The Holdovers› eher Ensemblestücke.»
Wenn Paul Giamatti so spricht, schaut er einem tief in die Augen. Aber halt, diesbezüglich gibt es noch etwas zu klären. In «The Holdovers» weisen beim Lehrer nicht beide Pupillen in die gleiche Richtung, er hat ein «Lazy Eye», was deutsch meist mit schwachsichtig (Amblyopie) übersetzt wird. So etwas kann doch der beste Schauspieler nicht spielen, oder? «Nein», antwortet er, «aber ich darf nicht verraten, wie es gemacht wurde. Es ist ein Staatsgeheimnis.» Später gibt er dazu doch einen Hinweis: «Bleiben Sie sitzen bei den Endtiteln. Wenn Sie diese aufmerksam lesen, werden Sie schon darauf kommen.»
Ja, das Ende. Unvergessen, wie Paul Giamatti in «Sideways» eine teure Flasche Cheval blanc in einer billigen Hamburgerbude aus einem Plastikbecher trank. Auch der Schluss von «The Holdovers» hat mit Alkohol zu tun, mehr sei hier nicht verraten. Ausser, dass es ein Ende ist, dass einen so glücklich wie schon lange nicht mehr aus dem Kino kommen lässt.
Aber bleiben Sie doch noch ein wenig sitzen. Und erfahren aus dem Nachspann, was es mit dem Geheimnis der Augen auf sich hat.
«The Holdovers»: ab 25. Januar im Kino
Fehler gefunden?Jetzt melden.