Krieg in der UkraineOrban hat ein Herz für Putins Freunde
Warum Ungarn den russischen Patriarchen Kyrill von der Sanktionsliste tilgen liess – und so den Rest der EU vorführt.

Die Botschaft, die nach dem jüngsten EU-Gipfel viele Teilnehmer verbreiten wollten, war klar. Die 27 Mitgliedsstaaten seien keineswegs zerstritten, sondern geeint in ihrer Unterstützung für die Ukraine und dem Ziel, Russland mit weiteren Sanktionen zu belegen. Als «wichtigen Schritt nach vorne» bezeichnete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den mit Ungarns Premier Viktor Orbán gefundenen Kompromiss. Bis zum Jahresende sollen 90 Prozent der russischen Ölimporte gestoppt werden. Der Kreml würde viele Milliarden verlieren. Ratspräsident Charles Michel lobte die «bemerkenswerte Leistung».
Auch über das weitere Verfahren herrschte Einigkeit: Bereits am Mittwoch sollten die EU-Botschafter letzte Details klären, sodass die neuen Strafmassnahmen zügig in Kraft treten könnten. Der Importstopp für russisches Öl soll indes vorerst nur für Tankschiffe gelten; Ungarn, Tschechien und die Slowakei können weiter durch Pipelines beliefert werden. Orban, der seit 2010 regiert und das Einstimmigkeitsprinzip der EU meisterhaft für sich zu nutzen versteht, hatte viele Wünsche erfüllt bekommen. Der Streit schien gelöst.
«Einer der prominentesten Unterstützer» des Angriffs
Am Mittwochnachmittag aber präsentierte Budapests EU-Botschafter plötzlich einen anderen Einwand: Solange Kyrill I., der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, auf der Liste der zu sanktionierenden Personen stehe, könne man nicht zustimmen. Kyrill sollte mit einem Einreiseverbot in die EU bestraft werden, weil er «einer der prominentesten Unterstützer» des russischen Angriffskriegs ist. Bankkonten des 75-Jährigen in der EU sollten eingefroren werden.
Diese Einlassung war für alle überraschend, für manche fast schockierend. Angesichts der Professionalität der ungarischen Diplomaten und der Erfahrung Orbans war klar: Dies ist kein Versehen, sondern bewusste Provokation. Orban stellt die anderen Staats- und Regierungschefs bloss und nimmt in Kauf, dass Zweifel an der Geschlossenheit der EU aufkommen.

Im Gespräch verweisen mehrere EU-Diplomaten verärgert darauf, dass Orban beim EU-Gipfel kein Wort über Kyrill verloren habe. Das Vorgehen widerspreche den Regeln: Ist auf einem EU-Gipfel eine politische Einigung erzielt, dann wird die auf den unteren Ebenen nicht wieder aufgeschnürt. Höchstens juristische oder technische Details werden noch geklärt. Insider in Brüssel bezeichnen Orbans Verhalten als «skandalös».
Polen und Balten protestierten
Vor allem Polen und die Balten protestierten dagegen, Kyrill zu schonen. Das Argument, es sei «kontraproduktiv», religiöse Führer zu bestrafen, kommentierte der griechische Botschafter mit den Worten: «Lasst uns nicht orthodoxer sein als die Griechen. Er sollte auf der Liste bleiben.» An der Haltung Budapests änderte dies nichts: Die EU-Botschafter mussten sich am Donnerstagnachmittag erneut treffen. Nach einer halben Stunde war klar, dass Orban gesiegt hatte. Damit die Strafmassnahmen, zu denen unter anderem Einschränkungen für das Finanzinstitut Sberbank gehören, endlich beschlossen werden können, wurde Kyrills Name gestrichen.
Dass Orban Strafen gegen den Patriarchen ablehnt, hatte er indes bereits Anfang Mai mitgeteilt. Damals tauchte Kyrills Name unter der Nummer 1158 im Entwurf der EU-Sanktionsliste auf. Er werde nicht zustimmen, dass man so mit einem Kirchenoberhaupt umgehe, sagte Orban. In letzter Zeit hatte er die christliche Religion immer öfter als Wesensmerkmal der westlichen Zivilisation bezeichnet, die durch die Migration von Muslimen bedroht sei.
Putin, Kyrill und Orban haben dieselben Werte
Die Betonung der Gemeinschaft der Christen ist Teil von Orbans ideologischem Feldzug gegen das, was er liberale Eliten nennt. Ebenso wie Russlands Präsident Wladimir Putin und der erzkonservative Patriarch wirft Orban ihnen die Förderung von Homosexualität, «Genderwahnsinn» und «Cancel Culture» vor. Vor allem aber beweist der Ungar einmal mehr, dass er nicht bereit ist, sich, ungeachtet des Angriffs auf die Ukraine, von Putin und seinen Gefolgsleuten zu distanzieren. Mit seiner ambivalenten, Ukraine-kritischen Position hatte er auch seinen furiosen Wahlsieg im April eingefahren.
Fehler gefunden?Jetzt melden.