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Essay zu den Olympischen Spielen
Pariser verlassen die Stadt – wenn sie das nur nicht bereuen

PARIS, FRANCE - JULY 23: A general view of the Beach Volleyball venue at Jardin de la Tour Eiffel ahead of the Paris Olympics Games on July 23, 2024 in Paris, France. The city is preparing to host the XXXIII Olympic Summer Games from July 26 to August 11. (Photo by Cameron Spencer/Getty Images) *** BESTPIX ***
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Und jetzt auch noch Olympia! Mag die Welt sich auch freuen auf diese Sommerspiele von Paris, auf die vielen schönen Bilder, auf grossen Sport und auf Kultur als Dekor, auf Beachvolleyball vor dem Eiffelturm, auf Fechten im wunderbaren und renovierten Grand Palais, auf Reiter in Versailles, auf Skater an der Place de la Concorde, auf Schwimmer in der dann vielleicht beinahe sauberen Seine.

Die Pariser selbst? Sind schon vorab matt, müde, nüchtern, im besten Fall. Es ist, als kröchen sie auf allen vieren zu ihren «JO» – phonetisch: ein weiches «schi-o», den Jeux Olympiques, diesem Fest sondergleichen. Wenn sie denn geblieben sind. Denn viele sind weg, aus der Stadt geflüchtet. Auch die Medien: völlig ausgepowert.

Diese Müdigkeit hat mit der Politik zu tun, mit den verrücktesten fünf Wochen, die das Land in Jahrzehnten erlebt hat – mit seinem «Jupiter». So beschrieb sich Emmanuel Macron, als er 2017 Präsident wurde. Er würde über den Niederungen der kleinen Alltagspolitik schweben, verhiess er, er würde sich nur um die ganz grossen Fragen und Geschichten der Republik kümmern, natürlich auch um die Olympischen Spiele. Das war die Idee.

epaselect epa11493306 A police member stands guard in front of the National Assembly of France (Assemblee Nationale) next to the Seine River amid preparations for the Olympic Opening Ceremony in Paris, France, 23 July 2024. The opening ceremony of the Paris 2024 Olympic Games will begin with a nautical parade on the Seine and end on the protocol stage in front of the Eiffel Tower on 26 July.  EPA/ALEX PLAVEVSKI

Was hatte er sich von diesem Grossereignis alles ausgerechnet. Frankreich sollte stolz strahlen, ausgeleuchtet wie ein Schaufenster. Schon die Eröffnungsfeier mit den Delegationen auf Booten in der Seine, vom Pont d’Austerlitz bis zum Trocadéro: grossartig, nie gesehen. Die besten Regisseure wurden dafür engagiert, sieben Jahre arbeiteten sie an der Inszenierung. Mehr als hundert Staats- und Regierungschefs werden teilnehmen. Paris, Leuchtturm der Welt. So war das gedacht. Der Countdown lief schon.

Doch dann, am 9. Juni, zur Verwunderung aller, löste Macron das französische Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Weniger als zwei Monate vor Beginn der Spiele verordnete er dem Land eine nervöse Blitzkampagne, wo es doch erst gerade die Europawahlen hinter sich gebracht hatte. Der Fokus verschob sich, keiner sprach mehr von Olympia. «Macron hat gerade sein eigenes Spielzeug zerstört», schrieb eine Zeitung. Gemeint waren die Spiele.

Le Pen auf der Ehrentribüne

Es hing die Sorge über Paris, dass die extreme Rechte an die Macht kommen könnte. Man stelle sich das vor: Die Minister von Marine Le Pen, frisch in ihren Ämtern, auf der Ehrentribüne zur Eröffnung, vor vier Milliarden Zuschauern. Die Lepenisten und ihr Nationalismus stehen quer zu inklusiven, universalistischen Spielen. Sie hatten sich schon aufgeregt, dass Aya Nakamura, eine Rapperin aus der Pariser Banlieue, zur Eröffnung etwas von Édith Piaf vortragen wird. Nicht französisch genug, fanden sie.

Diese Leute also standen so nahe an der Macht wie nie zuvor, und Macron öffnete ihnen weit die Tore. Valérie Pécresse, die Präsidentin der Île-de-France, der Region rund um Paris, wo ein schöner Teil der Spiele stattfinden wird, sprach von «russischem Roulette». «Der Präsident verdirbt uns das Fest», sagte Anne Hidalgo, die Pariser Bürgermeisterin, sie empfand den Coup der Neuwahlen wie eine Sabotage. Es ging dann gerade noch mal gut, zwei Drittel der Franzosen wollen die extreme Rechte noch immer nicht regieren sehen. Die Lepenisten wurden nur Dritte.

TOPSHOT - French President Emmanuel Macron looks on with the Olympic rings displayed behind him, leaves after posing with French athletes during a visits at the Olympic Village, in Saint-Denis, northern Paris, on July 22, 2024, ahead of the opening ceremony of Paris 2024 Olympic and Paralympic Games. (Photo by Michel Euler / POOL / AFP)

Doch das Land ist nach dieser Phase ausgezehrt und blockiert, ohne Mehrheit im Parlament, ohne neue Regierung. Wie auf Stand-by gestellt. Wegen «Jupiter». Niemand weiss, wie es weitergeht. Macron dekretierte diese Woche eine «politische Verschnaufpause», es klang wie ein Hohn, nachdem er dem Land den Schnauf genommen hatte. So fühlt sich das an, ausgerechnet im Moment, da Paris ewig mächtig strahlen soll, auch mit seiner Softpower.

«Wir tun so, als drohte Armageddon»

Die Pariser hatten schon vor dem politischen Drama über die «JO» gelästert, das gehört zum guten Ton, die Pariser sind chronische Nörgler. Diese Baustellen überall. Das absehbare Chaos mit 15 Millionen Besuchern. Die verstopfte Metro, die doppelt so teuren Tickets dafür während Olympia. Überhaupt: Gehen die Preise nicht für alles rauf? Müssen wir uns das gefallen lassen, diesen Zirkus?

Englische Medien erinnerten daran, dass die Stimmung auch vor den Spielen in London 2012 flau war, dass sie dann aber schnell drehte, kaum hatten sie begonnen. Das Pariser «JO-Bashing» hat aber Dimensionen angenommen, wie sie auch für pariserische Verhältnisse bemerkenswert sind, nahe am Defätismus. «Die geistige Verfassung dieses Landes ist beladen, schwer wie Blei», schreibt die Zeitung «Libération». «Wir tun so, als drohte Armageddon.» Das Nachrichtenmagazin «Le Point» titelte neulich: «JO – Chronik eines angekündigten Desasters».

TOPSHOT - An advertising banner depicts France's basketball player Victor Wembanyama on a street ahead of the Paris 2024 Olympic and Paralympic Games, in Paris on July 21, 2024. (Photo by Kirill KUDRYAVTSEV / AFP)

Alle stänkern, das Lamento ist längst zum Chor geworden, im Bus, am Marktstand, in der Brasserie, alle reden einander das Wort. In der Seine baden: Hält man uns eigentlich für Idioten? Was kostet uns das alles für eine Kohle? Und was bringt uns das, jeder weiss doch schon, dass Paris die schönste Stadt der Welt ist, n’est-ce pas?!

Auch die Verbände der Restaurant-, Bar-, Club- und Ladenbesitzer klagen, alle zusammen. Juni und Juli seien «beispiellos» schlecht, schreiben sie in einem gemeinsamen Communiqué, keine dieser euphorischen Wirtschaftsprognosen der Regierung habe sich bisher bewahrheitet, im Gegenteil: So wenig Betrieb wie in diesem Sommer hätten sie noch nie erlebt. Sie fordern «eine faire und schnelle Entschädigung» vom Staat.

Offenbar spielte bislang das Phänomen der aktiven «Paris-Vermeidung» eine Rolle, auch die Hotelbuchungen lagen vor den Spielen unter Durchschnitt, und vielleicht ist das auch ein verständlicher Reflex: Welcher Tourist, der nicht vordringlich an Olympia interessiert ist, will Paris ausgerechnet dann besuchen, wenn eine Reihe von Sehenswürdigkeiten weggepackt sind für die Wettbewerbe, wenn manche Baustellen noch nicht fertig sind, wo die tolle Stadt zur olympischen Tollstadt umgebaut wird?

«Ist das vernünftig?», fragte man sich schon 2015

Und dann ist da noch die Sorge vor Attentaten. Es ist dies eine diffuse und traurig routinierte Sorge der Pariser, spätestens seit dem Jahr 2015 und den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar und auf das Bataclan, auf die Terrassen im 10. und 11. Arrondissement, auf das Stade de France im November. 2015 war auch das Jahr, als Paris den Zuschlag für die Olympiade erhielt. Schon damals fragte man sich: Ist das vernünftig?

45’000 Sicherheitsbeamte sind nun aufgeboten worden, damit die Spiele möglichst das bleiben: schöne, leichte Spiele. Die Eröffnungsfeier auf dem Fluss mag ein Spektakel sein, es ist aber auch ein Albtraum für jene Behörden, die für die Sicherheit zuständig sind. Die Gefahr kann von überall kommen, auch aus der Luft. Der Luftraum über der Stadt und im Umkreis von 150 Kilometern wird während der Zeremonie gesperrt sein. Auch gegen Drohnen sei man gerüstet, heisst es.

TOPSHOT - French Gendarmerie officers check pedestrians and cyclists QR codes and luggages at a barriers checkpoint to circulate near the Louvre Museum in Paris on July 18, 2024, ahead of the opening ceremony of the Paris 2024 Olympic Games. French security forces began locking down large parts of central Paris on July 18, 2024, ahead of the hugely complex Olympics opening ceremony the week after on the river Seine. The opening parade along six kilometres (four miles) of the river led to the closure of riverside central districts to most vehicles from 5:00 am (0300 GMT) on July 18. (Photo by Dimitar DILKOFF / AFP)

Ganze Viertel links und rechts von der Seine wurden abgeriegelt, mit 40’000 Barrieren. Schon eine Woche vor dem Start kam man nur noch mit einem Pass mit QR-Code in die geschützte Zone, Bewohner, identitätsgeprüfte Gäste, Reporter, akkreditierte Mitarbeiter der Stadtverwaltung.

Eine Zeit lang war ja auch die Rede davon, dass die Buchhändler an den Uferstrassen, die «bouquinistes», ihre grünen Holzboxen abmontieren müssten. Es erhob sich Widerstand, bis Macron ein Machtwort sprach und die Verbannung der «bouquinistes» stoppte. Das hiess gleichzeitig aber auch, dass überall da, wo die grünen Boxen an den Ufermauern hängen, keine Zuschauer stehen dürfen – aus Sicherheitsgründen.

Es sollten mal insgesamt zwei Millionen sein, dann eine Million, am Ende werden es nur 300’000 sein, einzeln eingeladen. Aber das nimmt den Menschen die Sorge nicht weg. Auch deshalb ist die Stimmung unter den Parisern so misslich.

Der staatliche Fernsehsender France 2 hat sich in den vergangenen Monaten viel Mühe gegeben, um das innere Feuer anzufachen, jeden Tag berichtete er vom Weg der olympischen Flamme, zwischendurch war sie auch in Übersee, weil ja Frankreich ein grosses Land ist, obschon es sich selbst gerne kleinredet. Aber sosehr sich France 2 auch bemühte, es blieb ein zähes Werben.

Die Zukunft – wie tausend Staffeln «Emily in Paris»

Aber wahrscheinlich wird man davon nur wenig merken. Wer kann, ist schon weg, macht lange Ferien oder arbeitet im Homeoffice irgendwo und kommt erst wieder, wenn die Spiele vorbei sind. Das ist keine Übertreibung. Die Stadt wechselt gerade ihre Bevölkerung aus für ein paar Wochen. Die Pariser sind weg, die Olympischen sind da. Das ist vielleicht ein Glück. Vielleicht dreht die Stimmung ja bald auch in Paris, wie damals in London, und das schlechtgeredete Fest wird ein richtig gutes Fest. Die Stadt ist noch etwas schöner geworden, als sie es schon war, so schön war sie wohl noch nie.

Paris Mayor Anne Hidalgo swims in the Seine, in Paris on July 17, 2024, to demonstrate that the river is clean enough to host the outdoor swimming events at the Paris Olympics later this month. Despite an investment of 1.4 billion euros ($1.5 billion) to prevent sewage leaks into the waterway, the Seine has been causing suspense in the run-up to the opening of the Paris Games on July 26 after repeatedly failing water quality tests. But since the beginning of July, with heavy rains finally giving way to sunnier weather, samples have shown the river to be ready for the open-water swimming and triathlon -- and for 65-year-old Hidalgo. (Photo by JULIEN DE ROSA / AFP)

Das Bekenntnis von Bürgermeisterin Hidalgo zu grünen, nachhaltigen Spielen ist schon ein Vermächtnis. Nur fünf Prozent der Spielstätten mussten neu gebaut werden, den Rest gab es schon. Trotzdem investierte der Staat einen Haufen Geld in die Stadt, in Pärke und Gärten, in die Aufhübschung von Palästen und Statuen, in neue Radwege und verkehrsberuhigte Strassen. Hidalgo hat den Individualverkehr noch etwas mehr aus Paris verdrängt, ihr grosses Anliegen.

Das gefällt längst nicht allen, gerade denen nicht, die das Auto brauchen, der Verkehr staut sich jetzt einfach anderswo. Es gibt die Sorge, dass sich das Zentrum von Paris immer mehr zu einem Disneyland für Touristen wandelt, hübsch und grün und poliert, befahren nur noch von Radfahrern. Die Zukunft? Wie tausend Staffeln der Serie «Emily in Paris», ein romantischer Horror.

Aber auch dieses Lamento ist übertrieben. Das erste Olympia in Paris seit hundert Jahren hat Mittel freigemacht und Projekte beschleunigt, deren Umsetzung sonst viel länger gebraucht hätte. Und es hat die Banlieue etwas näher herangeholt an die Stadt, mit einer ersten erweiterten Metrolinie, der Linie 14. Drei weitere Linien werden in zwei Jahren fertig sein, der «Grand Paris Express» wird bald alle Vororte untereinander und diese mit der Stadt verbinden.

Das olympische Dorf steht in Saint-Denis und Saint-Ouen, gleich hinter dem «Périph», der Ringstrasse, wo das Postkarten-Paris schon weit weg ist, und auch das ist ein schönes Zeichen. Ein Signal, dass die drinnen endlich verstehen, dass die draussen sich ausgeschlossen fühlen. Und wenn es nur das ist: ein Hoch auf diese «schi-o»!