Kandidatin für Amt des PremiersFrankreichs Linke überrascht: 37-Jährige soll Regierungschefin werden
Sie hatte bislang nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag, jetzt schlägt der Nouveau Front populaire die Beamtin Lucie Castets als Premierministerin vor. Macron bremst. Er will eine «politische Verschnaufpause».

Frankreichs Linke und Emmanuel Macron liefern sich ein Rennen um die Zeit, als wäre auch die Politik eine olympische Disziplin – allerdings beide mit je sehr unterschiedlichen Tempi. Die linke Allianz «Nouveau Front populaire», knappe Siegerin bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 7. Juli, ohne absolute Mehrheit in der neuen Assemblée Nationale, möchte möglichst schnell vom Präsidenten der Republik mit der Bildung einer Regierung beauftragt werden. Macron hingegen kann es damit offenbar gar nicht langsam genug gehen.
Am Dienstagabend um 19 Uhr, und diese genaue Zeitangabe hat durchaus ihre Bedeutung, nach mehr als zwei Wochen mühseligster Verhandlungen und gegenseitiger Ultimaten, präsentierten die vier Parteien einen gemeinsamen, von allen gutgeheissenen Namen für das Amt des Regierungschefs – einen völlig unbekannten: Lucie Castets, hohe Staatsbeamtin, Finanzexpertin, 37 Jahre alt, sie arbeitet für die Pariser Stadtverwaltung. Wer mal rasch die wichtigsten biografischen Daten im Internet erfahren wollte, wurde enttäuscht: Castets hat noch keinen Eintrag auf Wikipedia. Die linke Zeitung «Libération» schreibt, sie sei nicht nur dem grossen Publikum unbekannt, sondern auch den eingeweihten Kreisen.
Vor zwei Jahren, als in Frankreich über Macrons Nähe zu der internationalen Beraterfirma McKinsey und deren rabiaten Entlassungsmethoden debattiert wurde, hatte Castets einen Auftritt im Fernsehen, der nun wieder überall abgespielt wird. Sie rechnet darin mit sehr bestimmter Stimme vor, dass über die Jahre 180’000 Beamtenstellen gestrichen worden seien, unter anderem in relevanten Ämtern, etwa im Gesundheitswesen. Als Mitbegründerin und Sprecherin der sozialen Bewegung «Nos services publics» (Unsere öffentlichen Dienstleistungen) kennt sie sich aus.
Macron will «politische Verschnaufpause»
Castets gilt als Vertreterin der Zivilgesellschaft, obschon sie als Absolventin der Universität Sciences Po, der London School of Economics und der Kaderschmiede ENA die üblichen Kanäle der französischen Machtelite durchlaufen hat. Danach arbeitete sie in der Generaldirektion des staatlichen Schatzamtes und später im Wirtschaftsministerium als Jägerin von Geldwäschern. Ideologisch wird sie dem linken Flügel des sozialdemokratischen Parti Socialiste zugeordnet, der sie auch vorgeschlagen hat; Parteimitglied ist sie aber nicht. Selbst die radikal linke La France Insoumise war deshalb mit dem Vorschlag einverstanden.
Der Coup mit dem Namen kam fast buchstäblich in letzter Minute. Eine Stunde später, um 20 Uhr, gab Macron ein Fernsehinterview, das erste seit den Wahlen, um die Franzosen auf eine «politische Verschnaufpause» während der Zeit der Olympischen Spiele einzustimmen. Darum eilte es der Linken so sehr: Sie wollte dem Präsidenten die Agenda aus der Hand nehmen. Der liess sich aber nicht bedrängen. «Bis Mitte August» werde er keinen neuen Premier berufen, sagte er, das würde nun nur Chaos verursachen.

Was er denn von dem neuen Namen der Linken halte, fragten ihn die Journalisten. «Das ist nicht der Punkt», sagte Macron. Es reiche nicht aus, dass ein politisches Lager einfach einen Namen nenne, wenn es keine Mehrheit im Parlament habe. Das gelte für alle Lager. Sein eigenes habe die Wahlen verloren, räumte er erstmals ein, schickte dann aber gleich nach: «Doch niemand hat sie gewonnen.»
Er wünsche sich, dass alle Kräfte, die an der «republikanischen Front» gegen die extreme Rechte beteiligt gewesen seien, miteinander reden würden. Die Franzosen wünschten sich eine solche Koalition, das sei ja auch etwas ganz Normales: In den meisten europäischen Ländern gebe es Koalitionsregierungen. «Kompromiss ist kein Schimpfwort», sagte er, man müsse die Kultur des Kompromisses nun erlernen. Die konservativen Républicains hätten mit ihren Reformvorschlägen für einen Regierungspakt den Weg vorgezeigt.
Macrons Pläne: Machen die Sozialisten mit?
Macron, so viel ist mittlerweile klar, würde sein Lager gern und in erster Linie mit den Republikanern verbünden. Zusammen kommen sie auf etwa 220 Sitze im Parlament. Die absolute Mehrheit liegt aber bei 289. Die Koalition sollte nach seinem Plan dann möglichst auf die Sozialdemokraten ausgeweitet werden, falls die bereit wären, mit dem Nouveau Front populaire zu brechen, der insgesamt auf etwa 200 Sitze kommt. Auf diese Weise behielten die Macronisten im Zentrum ihre zentrale Manövrierrolle. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass die Sozialisten da mitmachen? Kann es sein, dass sie sich in den kommenden Wochen wieder mit der France Insoumise überwerfen? Auch deshalb bremst Macron das Rennen.
Die Linke ist empört. Kaum war der Auftritt des Präsidenten vorbei, meldeten sich alle massgeblichen Persönlichkeiten des Nouveau Front populaire in den sozialen Medien. «Emmanuel Macron verleugnet die Realität», schreibt Marine Tondelier, die Chefin der Grünen, auf X. «Wir haben gewonnen, wir haben ein Programm, wir haben eine Premierministerin.» Jean-Luc Mélenchon von den Insoumis wirft Macron vor, der respektiere den Wählerwillen nicht: «Entweder unterwirft es sich ihm, oder er tritt zurück.»
Lucie Castets hält sich selbst für eine «glaubhafte und ernsthafte» Kandidatin für das Amt, wie sie den Nachrichtenagenturen erzählte. Sie akzeptiere die Nominierung der Linken «mit Bescheidenheit, aber auch mit viel Überzeugung». Eine ihrer grössten Prioritäten sei die Rücknahme von Macrons Rentenreform. Vielleicht muss dann auch der Präsident lernen, Kompromisse einzugehen, nun, da das Land schier unregierbar geworden ist.
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