Digitalisierung im öffentlichen VerkehrWiderstand gegen neues Ticketsystem in Bahnen und Bussen wächst
Wer häufiger fährt, zahlt weniger. Fahrten in Stosszeiten werden teurer. Und abgerechnet wird mit dem Smartphone. Dieser Plan weckt Ängste. Welche, zeigt eine Zugreise von Bern nach Luzern.
Es ist ein Blick in die Zukunft, der verheissungsvoll aussieht: Künftig erkennt das Smartphone, welche Strecken Passagiere im öffentlichen Verkehr zurücklegen. Abgerechnet wird erst nach der Reise. Zahlen können die Kundinnen und Kunden je nach Bedürfnis wochenweise, pro Monat oder sogar erst zum Jahresende.
Das kommt einem grundlegenden Umdenken bei der Preisgestaltung gleich. Heute muss man ein Ticket lösen oder ein Abonnement besitzen, bevor man eine Reise im Zug oder Bus antritt.
Künftig werden Fahrten in Stosszeiten teurer
Unter diesen Vorzeichen wird die Alliance Swisspass, die Branchenorganisation des öffentlichen Verkehrs, ab März ihr neues Tarifmodell «myRide» mit bis zu 10’000 Personen testen. Es ist vollständig auf Digitalisierung ausgerichtet und sieht dynamische Preise vor. Will heissen: Wer häufiger fährt, zahlt weniger. Jedoch werden Fahrten mit hoher Nachfrage teurer – etwa während der Stosszeiten.
Die Tests laufen noch bis Ende Jahr. Sollten die Ergebnisse aus Sicht der Bahn- und Busbetriebe zufriedenstellend ausfallen, könnten sie das neue Tarifsystem frühestens ab 2027 schweizweit einführen.
«MyRide» ist nicht zu verwechseln mit «Easy Ride», einer neuen Funktion der SBB-App. Damit lässt sich mit einer Wischbewegung auf dem Smartphone in ein öffentliches Transportmittel einchecken und nach der Fahrt wieder auschecken. Die App sucht daraufhin jeweils die günstigste Variante aus.
Fünf grosse Organisationen kämpfen dagegen
Auch wenn «myRide» attraktive Preise und Bequemlichkeit verspricht, nimmt der Widerstand gegen das geplante Angebot zu. Drei weitere Organisationen schliessen sich einem Bündnis von Vereinigungen an, die das Vorhaben von Alliance Swisspass kritisieren. Es sind die Interessengemeinschaft öffentlicher Verkehr (IGöV), Caritas Schweiz und die Vereinigung aktiver Senior:innen- und Selbsthilfe-Organisationen der Schweiz.
Bereits im November hatten die Stiftung für Konsumentenschutz und der Verkehrsclub Schweiz ihre Bedenken öffentlich geäussert. Am Montag werden die fünf Organisationen das gemeinsame Engagement und die Einwände gegen die Pläne von Alliance Swisspass bekannt geben.
Die «SonntagsZeitung» kennt die Kritikpunkte schon. Anhand einer Zugreise von Bern nach Luzern haben Vertreterinnen und Vertreter der Organisationen erläutert, wo sie die Stolpersteine der digitalen Zukunft im öffentlichen Verkehr orten. Der Ausflug umfasste vier Stationen:
Bahnhof Bern, Billettautomaten beim Treffpunkt
«Die Automaten sind unter anderem eine erste Rückfallebene, wenn die Apps nicht funktionieren», sagt Sara Stalder, Geschäftsleiterin des Konsumentenschutzes. Sie sucht sich eine freie Maschine aus und tippt durch die Liste der Ankunfts- und Abfahrtsorte, bis die gewünschte Strecke von Bern nach Luzern eingegeben ist.
Es zeichne sich jedoch ab, dass die Betriebe des öffentlichen Verkehrs diese Art der Verkaufspunkte langfristig abschafften, fährt Stalder fort. So solle die Kundschaft zu einem Wechsel auf die Apps gezwungen werden.
Die wirtschaftliche Logik dahinter: «Betrieb und Unterhalt von Billettautomaten verursachen Kosten, die mit einer vollständigen Umstellung auf digitale Bezahlsysteme auf einfache Weise weggespart werden können», sagt Stalder. Die Kundschaft werde künftig den Automaten quasi selber mitführen müssen – in Form eines Smartphones.
Bahnhof Bern, Schalterhalle
Marius Wiher bezeichnet den Schalter als «allerletzte Verbindung zur analogen Welt, falls der Ticketautomat nicht funktioniert». Der Leiter Mobilität beim Konsumentenschutz will deshalb sein Billett nach Luzern auf die traditionelle Art lösen. Am Eingang begrüsst ihn ein SBB-Mitarbeiter und weist ihn einem Schalter zu. Der Andrang ist gross: Die Wartezeit wird auf den grossen Bildschirmen mit bis zu 10 Minuten angegeben.
«Wer am Schalter bedient werden will, muss Zeit einrechnen», sagt Wiher, nachdem er sein Ticket erhalten hat. Auch seien gewisse Dienstleistungen nur am Schalter erhältlich, etwa eine Mitfahrkarte für Kinder. Er fordert deshalb, dass jederzeit genug Schalter offen sind und sämtliche Angebote uneingeschränkt via App erhältlich sind.
Ähnlich wie die Ticketautomaten sind laut Konsumentenschutz die Schalter kostenintensiv, weil es dafür Personal brauche. «Langfristig ist deshalb zu befürchten, dass der Schalter abgeschafft wird, um dank der Digitalisierung Kosten zu sparen», sagt Wiher.
Billettautomaten und Schalter seien nicht Bestandteil von «myRide», entgegnet Alliance Swisspass. Es gebe kein Projekt, mit dem die Kundschaft zu einem Wechsel auf Apps gezwungen werden solle.
Ankunft im Bahnhof Luzern, Gleis 4
Christoph Wydler prüft bei der Ankunft in Luzern auf seinem Smartphone die Abfahrtszeiten für seine Rückreise nach Basel. Er habe «als Senior» keine Berührungsängste mit dem Smartphone, sagt Wydler während der Fahrt von Bern nach Luzern. Der 76-Jährige ist Vizepräsident der IGöV und Vertreter der Seniorenverbände.
Als solcher kennt er sich mit dem Verhalten von Fahrgästen aus. Als er in Bern in den gut besetzten Zug einsteigt, findet er auf Anhieb ein Abteil der 2. Klasse mit freien Sitzplätzen.
Er könne jedoch nicht stellvertretend für alle älteren Menschen sprechen, fährt Wydler fort: «Viele Senioren besitzen kein Smartphone oder fühlen sich nicht in der Lage, mit einem solchen Gerät digitale Angebote zu nutzen.»
Ihnen müssten die Bahnbetriebe deshalb den Zugang zu Tickets auf einfache Weise ermöglichen. Dazu gehöre Bargeld als Zahlungsmittel. Wydler spielt darauf an, dass die Konsumenten bei Apps mit Bezahlfunktion Kreditkarten hinterlegen müssen.
«Kundinnen und Kunden werden – sofern gewünscht – weiterhin ein Billett im Voraus kaufen können», hält Alliance Swisspass dazu fest. Der Eindruck der technologiefeindlichen Senioren sei nicht nachvollziehbar. Die Branchenorganisation verweist auf eine Studie von Pro Senectute von 2020, wonach in der Schweiz drei Viertel aller Menschen über 65 Jahre online unterwegs sind.
Luzern, Sitz von Caritas
Am Ausflugsziel stösst Andreas Lustenberger hinzu, Leiter Politik von Caritas Schweiz. Beim Gespräch in einem Café in der Nähe des Bahnhofs Luzern bringt er einen gesellschaftlichen Aspekt ins Spiel, der weniger offenkundig ist. Das Prinzip von «zuerst fahren, dann bezahlen» sei für Personen mit knappem Budget problematisch. Wer jeden Rappen umdrehen müsse, sei darauf angewiesen, das Total der anfallenden Kosten vor dem Gebrauch von öffentlichen Verkehrsmitteln abschätzen zu können, sagt Lustenberger.
Ärmere Menschen seien benachteiligt, wenn häufiges Fahren im öffentlichen Verkehr belohnt werde. «Denn naturgemäss planen sie möglichst wenige Fahrten ein, um Geld zu sparen.»
Armut ist hierzulande kein Minderheitenthema. Offizielle Angaben des Bundesamts für Statistik zeigen, dass 1,25 Millionen Menschen armutsgefährdet sind. Wegen der Teuerung und steigender Kosten für Mieten und Krankenkassenprämien schätzt Caritas, dass diese Zahl inzwischen höher liegt.
Alliance Swisspass betont, dass der Preis für eine Strecke sowohl während des anstehenden Feldtests als auch bei einer allfälligen Einführung von «myRide» im Voraus angegeben werde. In welcher Form, lässt sie allerdings unbeantwortet. So ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar, ob der Höchstpreis pro Strecke ausgewiesen wird oder die Einsparmöglichkeit durch häufiges Fahren.
Treffen mit Alliance Swisspass geplant
Zwischen dem Konsumentenschutz, Caritas, der IGöV und Alliance Swisspass besteht bereits ein Austausch zu «myRide». Allerdings wirft Konsumentenschützerin Stalder der Branchenorganisation eine Einwegkommunikation vor. Und sie weigere sich, die vorgebrachten Anliegen ernst zu nehmen.
Diesen Vorwurf weist der Verbund zurück. Alliance Swisspass habe transparent über das Projekt informiert sowie erläutert, welche Ziele mit «myRide» verfolgt würden und was die nächsten Schritte seien. Verfrühte und vorauseilende Positionierungen zum neuen Tarifsystem nehme die Allianz «mit einer gewissen Besorgnis zur Kenntnis».
Eine neue Gelegenheit für fruchtbare Gespräche ergibt sich schon bald: Am 28. Februar ist ein weiteres Treffen vorgesehen. Stalder und ihre Mitstreiter hoffen, sich dann Gehör zu verschaffen.
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