Anschlag auf tamilische Familie«Sie waren Freiwild, die Faschos haben die gehetzt»
Eine Recherche weckt Erinnerungen: Ein Molotowcocktail-Angriff im Kanton Bern zeigt, wie lasch 1991 mit Rechtsextremismus in der Schweiz umgegangen wurde.

- Ein Molotowcocktail traf 1991 ein Haus tamilischer Familien in Lotzwil.
- Der Oberaargau galt damals schweizweit als Hochburg des Rechtsextremismus.
- Die Behörden taten die Übergriffe oft als jugendlichen Leichtsinn ab.
- Gleichzeitig formierte sich in der Region aber auch eine Gegenbewegung.
Es begann mit einem Gespräch, in dem Mirjam Steiner aufschnappte, wie jemand von einem Brandanschlag in Lotzwil sprach. In Lotzwil, in ihrem Dorf? In den Neunzigern sei das gewesen, das Ziel waren tamilische Asylsuchende, die Täter wohl Neonazis, wie üblich, zu dieser Zeit im Oberaargau. Wurde jemand verletzt? Jemand verhaftet? Gab es sonstige Konsequenzen? Es liess sich zunächst nichts Näheres herausfinden.
Doch die Geschichte liess Mirjam Steiner nicht los. Als Studentin der Zeitgeschichte beschloss sie, der Sache im Rahmen einer Seminararbeit auf den Grund zu gehen. Das war vor anderthalb Jahren, und heute fasst sie lakonisch zusammen: «Ich habe den Aufwand unterschätzt.»
Mirjam Steiner verbrachte Zeit in Zeitungsarchiven, suchte Zeugen. Mit der Zeit wurde das Bild des ominösen Angriffs genauer, und die Erkenntnis wuchs, dass er typisch war für diese Zeit. Nicht nur für den Oberaargau, sondern für die gesamte Schweiz.
Molotowcocktail erschüttert Lotzwil
Am 16. November 1991 flog morgens um 3.30 Uhr ein Molotowcocktail durch ein Fenster ins Parterre eines Hauses in Lotzwil. Im Gebäude mit der Adresse Inseli wohnten auch zwei tamilische Familien. Das Feuer konnte gelöscht werden, der Sachschaden wurde auf 1000 Franken geschätzt.
Eine Täterschaft liess sich nicht identifizieren. Doch die Tagespresse betrachtete den Anschlag als Teil einer Serie im Kanton. Innerhalb von knapp drei Monaten hatte es zuvor Brandanschläge auf Asyleinrichtungen in Thun und Konolfingen gegeben. Dazu fielen in Köniz Schüsse auf ein Erstaufnahmezentrum.
Später gab es einen weiteren Anschlag mit Molotowcocktails: An Weihnachtsabend wurden zwei Brandsätze auf eine Asylunterkunft in der Stadt Bern geworfen. Wenigstens forderten all diese Angriffe keine Verletzten oder Toten.
Anders war es in Chur zwei Jahre zuvor gewesen. Dort starben vier Menschen nach einem Anschlag auf eine Unterkunft. Vieles spricht dafür, dass für diesen Angriff Neonazis verantwortlich waren. Das förderte unlängst die grosse Recherche von «Das Magazin» zutage. Die Todesopfer waren drei Kinder und ein Erwachsener, alle tamilische Geflüchtete.
Tamilinnen und Tamilen suchen Asyl in der Schweiz
Tamilische Asylsuchende rückten ab Mitte der 1980er-Jahre ins öffentliche Bewusstsein und prägten die Debatte um Migration und Asyl. Waren die «Asylanten» bis anhin vor allem Europäer gewesen, die aus dem kommunistischen Ostblock flohen und im antikommunistisch gesinnten Bundesbern Sympathien genossen, ersuchten nun zunehmend Menschen aus anderen Kontinenten um Asyl. Diese hatten kaum politische Fürsprecher. Und wurden somit einfacher zur Zielscheibe.

So sprach SVP-Doyen Christoph Blocher von einer «Asylantenschwemme» und forderte die Ausrufung von Notrecht. Auch andere bürgerliche Parteien agierten bei den Themen Asyl und Migration mit populistischen Parolen.
Übergriffe wurden auf breiter Front als jugendlicher Unsinn abgetan, wie sich an den Aussagen des Langenthaler Gemeindepräsidenten Walter Meyer (SP) im Jahr 1987 exemplarisch zeigt: Es gebe eine Handvoll Jugendlicher, die eine «komische Haltung gegenüber Ausländern» einnehme. Dennoch solle man das Problem «nicht allzu stark überbewerten».
Das sahen damals freilich nicht alle so. Ein Zeitzeuge, den Mirjam Steiner für ihre Arbeit interviewt hat, formuliert es so: «Also diese Jungs und Mädels fremdländischer Herkunft, insbesondere mit nicht-weisser Hautfarbe, sind verfolgt worden. Sie waren Freiwild, die Faschos haben die gehetzt.»
Kaum Urteile gegen rechtsextreme Gewalt
So kam auch der Molotowcocktail-Anschlag in Lotzwil nicht aus heiterem Himmel. Tamilische Geflüchtete waren in den Jahren davor in der Region immer wieder Opfer von Angriffen geworden: Physische Übergriffe, Beschimpfungen, Hetzjagden, eingeschlagene Häuserfenster geschahen häufig und führten dazu, dass der Oberaargau schweizweit als Hochburg rechtsextremer Gewalt wahrgenommen wurde.
Mirjam Steiner, die für ihre Arbeit eine Fülle von Meldungen über rechtsextreme Übergriffe im Oberaargau zusammentrug, sagt: «Die Anzahl ist sehr gross. Nicht alle waren gleich gefährlich, aber ermittelt wurde wenig, und zu Verurteilungen kam es noch weniger.» Dass es im Oberaargau zu keinen Todesopfern kam, sei wohl eher Glück gewesen.
Der Oberaargau als «braunes Nest»
Im Rückblick wird klar: Der Oberaargau, der als «braunes Nest» bezeichnet wurde, war keine Ausnahme. In der ganzen Schweiz kam es zu ähnlichen Übergriffen. «In Langenthal wurden aber vergleichsweise viele verzeichnet», sagt der Historiker Jonathan Pärli. «Dass gleichzeitig die neonazistische Pnos ins Stadtparlament einzog, zementierte das negative Bild.»

Es gab aber auch eine Gegenbewegung. Pärli weist auf eine grosse Demonstration hin, die ein paar Jahre vor dem Molotowcocktail-Anschlag stattfand: Im November 1987 versammelten sich 1500 Personen in Langenthal, um gegen rechtsextreme Gewalt an Geflüchteten zu demonstrieren. Für Langenthaler Verhältnisse waren zweifelsohne viele gekommen.
Die Demo war Teil einer aktiven Asylbewegung, die sich in den 1980er-Jahren etablierte, wie Pärli in seiner Dissertation nachzeichnet. Im Kanton Bern gab es vor allem Diskussionen um die «Berner Tamilen»: Private und Kirchen engagierten sich für Geflüchtete, die vor einer Rückschaffung in das Bürgerkriegsland bedroht waren.
In Bern war das nicht unwesentlich, da es im Kanton eine vergleichsweise grosse tamilische Diaspora gab und das breit abgestützte Kirchenasyl selbst die Kantonsregierung nicht kaltliess. Diese liess gegenüber Bundesbern durchsickern, dass die Rückschaffungen nach Sri Lanka keine Priorität für die Kantonalbehörden waren.
Rechtsextreme Gewalt greift um sich
Zwischen 1988 und 1993 gab es in der Schweiz mindestens sieben Todesopfer rechtsextremer Gewalt. Damals wurde das Erstarken des Rechtsextremismus als «kleiner Frontenfrühling» bezeichnet, in Anlehnung an faschistische Bewegungen in den Dreissigern in der Schweiz.
Das Adjektiv «klein» bezog sich vor allem darauf, dass die Neonazis nie zu einer grossen Bewegung wurden. Ganz passt das Adjektiv jedoch nicht: Die Schweiz verzeichnete, gemessen an der Grösse des Landes, in diesem Zeitraum die meisten Ermordeten – sogar mehr als Deutschland, wo mit dem Mauerfall der Rechtsextremismus massiv zunahm.
Für Pärli ist klar: Ein Problem mit Rechtsradikalen zu haben, passte nicht ins Selbstverständnis der Schweiz, die ihre humanitäre Tradition bei jeder sich bietenden Gelegenheit anpries. «Das ständige Herunterspielen sollte signalisieren: Hier gibt es nichts zu sehen.»
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