Kaspar Villiger über US-PolitikDas Schweizer Erfolgsmodell ist in der Zeit einer zerfallenden Weltordnung bedroht
Für Kaspar Villiger ist es Zeit, dass unser Land aus dem Schlaf der Seligen aufwacht. Hier legt der Alt-Bundesrat dar, was zu tun wäre.

«Les Suisses se lèvent tôt et se réveillent tard.»
Fünf Tatbestände stellen die Schweiz vor die grössten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings scheint das noch niemanden so richtig zu beunruhigen.
Eine Weltordnung kollabiert, Macht löst Recht ab und Kriege werden wieder geführt.
Der regelbasierte Welthandel als wichtigste Wohlstandsquelle gerät ins Trudeln.
Der Trend, wonach mehr Information zu mehr Informiertheit führt, verkehrt sich in sein Gegenteil, und Information und Desinformation sind immer schwieriger zu unterscheiden.
Die demografische Alterung setzt in wohlhabenden Industriestaaten die Sozialsysteme und die Innovationsdynamik unter Druck.
Die globale Verschuldung erreicht historische Ausmasse und gefährdet nicht nur die Stabilität einzelner Staaten, sondern des globalen Finanzsystems.
Wie konnte es erstens so weit kommen, und wie kann zweitens in diesem Umfeld eine unabhängige kleine Exportnation erfolgreich überleben?
Die paradiesischen Verhältnisse von einst
Das Ende des Kalten Kriegs war zugleich der Beginn einer Erfolgsgeschichte: der Siegeszug von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft. Extreme Armut und Hunger auf der Welt nahmen ab, Wohlstandsunterschiede zwischen Staaten verminderten sich, die Lebenserwartung stieg, kriegerische Auseinandersetzungen wurden seltener. Es bildete sich eine regelbasierte unipolare Weltordnung, in welcher die Amerikaner als eine Art Ordnungsmacht für die Einhaltung von Regeln sorgten. Für unser weltoffenes Exportland waren dies paradiesische Verhältnisse.
Dies festzuhalten, ist heute wichtig: Der Irrtum, dem wir alle damals unterlagen, war nicht, dass wir den Wert der sich ausbreitenden liberalen Demokratie überschätzten. Der Irrtum war der Glaube, dass sich die liberale Demokratie endgültig durchsetzen könne.
Der demokratische marktwirtschaftliche Rechtsstaat ist wahrscheinlich die grösste zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit, weil er Milliarden Menschen die Chance eröffnet, in Freiheit, Frieden und Wohlstand zusammenzuleben. Leider ist er uns nicht angeboren. Er ist störanfällig, verletzlich und stets gefährdet. Er bedarf der permanenten sorgsamen Pflege.
Es sind im wesentlichen vier Schocks, welche die Demokratien zu überfordern begannen: Die Finanzkrise, die Coronapandemie, der Angriff Russlands auf die Ukraine und die rücksichtslosen Bestrebungen von Donald Trump, die USA von einer demokratischen und freihändlerischen Ordnungsmacht in eine imperialistische und merkantilistische Autokratie zu transformieren.
Die Spuren von Finanzkrise und Corona
Die Finanzkrise und die Coronapandemie haben tiefe Spuren hinterlassen. Zwar vermochten die Notenbanken mit massiven Geldflutungen eine wirtschaftliche Depression zu verhindern. Die damit verbundenen Fehlanreize führten aber zu einer beispiellosen globalen Verschuldung mit einem unterschätzten Destabilisierungspotenzial.

Weiter liessen die Demokratien ihre Verteidigungsfähigkeit in der Annahme verkümmern, Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Verflechtung würden Kriege zunehmend verhindern. Der Ukraine-Krieg entlarvte dies als Irrtum. Zudem droht Trump den europäischen Verbündeten, sie allfälligen Aggressionen Russlands schutzlos zu überlassen.
Das alles führt dazu, dass die schon hoch verschuldeten europäischen Demokratien mit neuen Schulden in massive Aufrüstung investieren müssen. Dazu kommt, dass Europa strukturell nicht darauf vorbereitet ist, sein wirtschaftliches Gewicht in politische und militärische Durchsetzungskraft umzusetzen.
Als ob dieses Ungemach nicht schon genügte, attackiert Trump mit seiner ökonomisch abstrusen Wirtschafts- und Zollpolitik den wohlstandssichernden Welthandel und erhöht damit das Risiko von Wirtschafts- und Währungskrisen.
Vier Erfordernisse für die Schweiz
Niemand kann zurzeit voraussagen, wie sich in diesem verfahrenen Umfeld die Dinge entwickeln werden. Was immer auch geschieht, es betrifft die Schweiz sehr direkt und bedroht unser Erfolgsmodell. Daraus ergeben sich im wesentlichen vier prioritäre Folgerungen für unser Land:
Das zentralste Erfordernis ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, die der Wirtschaft erlauben, den massiv verschlechterten Welthandelsbedingungen erfolgreich zu trotzen. Nur so ist unser Wohlstand zu erhalten, und nur so erhält der Staat die zur Erbringung seiner Leistungen nötigen Mittel. Es bedeutet die Offenhaltung der Weltmärkte durch neue Freihandelsabkommen, die nicht an links-ideologischen weltfremden Forderungen oder an einer Blockadepolitik von rechts scheitern dürfen. Und es bedeutet weiter den rechtlich abgesicherten Zugang zum wichtigsten Absatzmarkt, dem EU-Binnenmarkt. Ebenso wichtig ist der Abbau anstelle der permanenten Schaffung von unnötigen bürokratischen Auflagen und Belastungen. Wegen der tiefen Geburtenraten ist unser Wohlstand ohne Zuwanderung nicht zu halten, aber diese ist so zu portionieren, dass einerseits die Wirtschaft über die nötigen qualifizierten Arbeitskräfte verfügt, aber dass andererseits unser Integrationsvermögen nicht überfordert wird.
Die Verteidigungsfähigkeit der Armee muss wiederhergestellt werden. Kriege, zurzeit vor allem hybride, bedrohen auch uns, und für uns und für ganz Europa wichtige Infrastrukturen können wir nicht hinreichend schützen. Dazu gehört auch, dass wir die strategischen Handlungsspielräume nicht durch selbst auferlegte Fesseln wie etwa eine geschichtsvergessene enge Auslegung der Neutralität selber verbauen.
Die sich in allen Demokratien ausbreitende und durch die sozialen Medien befeuerte Polarisierung ist auch bei uns eingesickert. Sie beschädigt die in einer direkten Demokratie notwendige Kompromissfähigkeit und führt damit zu einem Reformstau in zentralen Bereichen wie der sicheren Stromversorgung oder der dramatisch unterfinanzierten Sozialwerke. Durch eine Renaissance dieser Kompromisskultur muss dieser Reformstau abgebaut werden.
Durch eine grundsolide Finanzpolitik sind die finanziellen Handlungsspielräume für die Bewältigung von Krisen zu bewahren und diejenigen der künftigen Generationen nicht zu verbauen. Dazu gehört die Einhaltung der Schuldenbremse, aber auch die Realisierung des geplanten Entlastungsprogramms des Bundesrates.
Es braucht Beschränkung und Verzicht
All das politisch umzusetzen, ist anspruchsvoll und kostspielig. Ohne Beschränkung auf das Notwendige und Verzicht auf das nur Wünschbare wird es nicht gehen. Die Frage stellt sich, ob unsere verwöhnte Wohlstandsgesellschaft dazu überhaupt in der Lage ist.
Wir erleben den Übergang von einer Leistungsgesellschaft zu einer Anspruchsgesellschaft, die vom Staat mehr an Segnungen erwartet, als er zu leisten imstande ist. Man hat den Eindruck, dass die Mehrheit der Politiker lieber den von der Wirtschaft erarbeiteten Kuchen umverteilt, anstatt sich für die Vergrösserung des Kuchens einzusetzen. Der Wirtschaft gegenüber herrscht ein Misstrauen, das diese nicht verdient hat. Sie leistet Hervorragendes, sonst ginge es uns nicht so gut. Offenbar halten viele unseren Wohlstand für gottgegeben.
In weiten Teilen der Öffentlichkeit scheint das Bewusstsein für den Ernst der Lage zu fehlen, wie das Delamuraz mit seinem Bonmot symbolisiert. Die Polparteien haben gelernt, dass man offenbar nur mit kompromisslosen und oft unfinanzierbaren Extremforderungen und nicht mit differenzierten Lösungsvorschlägen Wahlen gewinnen kann. Deshalb ist ihr Interesse an Wahlerfolgen grösser als an Lösungen. Die Tonalität der Auseinandersetzungen ist gehässiger geworden, und die persönliche Beschimpfung des politischen Gegners tritt an die Stelle der konstruktiven Auseinandersetzung mit seinen Argumenten.
Was uns Mut machen sollte
Dem stehen allerdings noch immer viele positive Faktoren gegenüber. Das Vertrauen in die Demokratie ist gross, wohl weil die direkte Demokratie eine wirksame Kontrolle der Regierenden durch das Volk ermöglicht. Von links bis rechts besteht ein nach wie vor grosser Vorrat an gemeinsamen demokratischen und rechtsstaatlichen Werten. Mögen auch die Ansichten etwa über internationale Zusammenarbeit auseinandergehen, so ist die grundsätzliche Haltung zu unserem Staatswesen bei allen Parteien positiv. Auch wenn die Verwaltung in einigen Bereichen übermässig ausgewuchert sein mag, so ist sie doch kompetent, bürgernah, kaum korrupt und motiviert.
Der Staat funktioniert. Seine finanzielle Situation ist – ausser bei einigen Sozialwerken – kerngesund. Das duale Bildungssystem ist nach wie vor ein Trumpf. Die Wirtschaft ist innovativ, strukturell gesund und wettbewerbsfähig. Trotz Haarrissen sind die Standortratings noch sehr gut. Die breit abgestützte, aber wirksam kontrollierte Regierung, die direkte Demokratie und die freie parlamentarische Entscheidungsfindung erlauben im Vergleich zu rein repräsentativen Regierungssystemen ein respektables politisches «Durchwursteln» durch zerklüftete politische Landschaften.
Im Vergleich zu anderen Ländern sind damit bei uns die Voraussetzungen dafür, in schwieriger Zeit das Richtige zu tun, recht gut. Wir müssen allerdings aus dem Schlaf der Seligen aufwachen und das Bonmot von Delamuraz Lügen strafen. Politik und Volk sind gefordert!
Kaspar Villiger war FDP-Bundesrat von 1989 bis 2003 sowie Präsident der Grossbank UBS von 2009 bis 2012.
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