Rückkehr der SeucheWarum das Virus in Europa wieder auf dem Vormarsch ist
In vielen Ländern grassiert das Virus so stark wie im Frühjahr, fast ein Drittel aller Neuinfektionen entfällt auf Europa. Doch nicht alle Länder sind gleich stark betroffen. Was sagt das über den Umgang mit Corona aus?
In Europa lässt sich derzeit sehr gut erkennen, wie schmal der Grat zwischen einem wirkungsvollen Kampf gegen das Virus und der Gefahr ist, die Pandemie dramatisch zu unterschätzen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wurde in der zweiten Oktoberwoche fast ein Drittel der weltweiten Neuinfektionen aus der europäischen Region gemeldet.
Das Coronavirus verbreitet sich demnach in Spanien, Grossbritannien und Frankreich explosionsartig. In Polen haben sich die Zahlen der Viruspositiven und der Covid-Todesfälle binnen einer Woche verdoppelt. Die Niederlande geben aktuell die Kontaktverfolgung auf, weil die Zahl der Fälle ihre Kapazitäten sprengt. Vielerorts ist die Kurve der neuen Ansteckungen sogar über den Peak des Frühjahrs hinaus geklettert – was zum Teil durch mehr Testungen erklärt werden kann, es werden mehr Infektionen gefunden.
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Aber das ist eben nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Der grössere Teil lautet, dass das Virus wieder auf dem Vormarsch ist. Das unterschiedlich starke, oft doch sehr erschreckende Aufflammen der Pandemie in Europa sagt dabei auch viel über den sehr verschiedenen Umgang mit Corona aus – etwa politisch, ob und welche Massnahmen ergriffen und umgesetzt werden.
In manchen Ländern, wie zum Beispiel Spanien, klappte es bis zuletzt eher schlecht. Häufig versandeten die Anordnungen, die tatsächlich viel strenger waren als anderswo, in den regionalen und lokalen Strukturen. Zudem vermittelte die spanische Regierung mit ihrem Weg in die «neue Normalität» bereits im Juni, dass man die Sache praktisch überwunden habe. Nicht wenige halten das jetzt für einen politischen Fehler.
Doch nicht allein die Politik bestimmt, ob der Kampf gegen Corona Erfolg hat. «Noch wichtiger ist das Verhalten der Bevölkerung», sagt Sandra Ciesek, die an der Uniklinik Frankfurt die medizinische Virologie leitet. Was das gesellschaftliche Engagement ausmachen kann, hat die Ärztin im Sommer selbst erlebt, und zwar im einstigen Corona-Hotspot Europas, nämlich Italien.
«Ich habe gesehen, wie diszipliniert sich die meisten Menschen dort an die AHA-Regeln halten», berichtet Ciesek. Abstand, Hygiene und Alltagsmasken: Die AHA-Regeln sind in Italien selbstverständlich. In Italien gibt es nun einen Wellenbrechereffekt. Die zweite Welle kommt zwar an. Sie erreicht das Land aber nur mit einem Bruchteil der möglichen Wucht.
In anderen Ländern sind dagegen weder eine solche Disziplin noch ihr Effekt zu erkennen. Es stellt sich daher die Frage, ob für eine europäische Kontrolle der Pandemie stärkere Impulse aus Brüssel nötig wären. Bislang hat die EU-Kommission vor allem Impfstoffe bestellt – 700 Millionen Dosen dreier Vakzine, von denen zwei Probleme in ihren entscheidenden Wirkstoffstudien haben und das dritte noch im Anfangsstadium der Prüfung ist. Mit anderen Worten: Vor dem Impfstoff kommt der Winter. Und mit ihm die Ansteckungsgefahr.
Ciesek warnt davor, die Rückkehr des Virus zu unterschätzen. «Die Gefahr, dass sich in den nächsten Wochen eine grosse Anzahl von Menschen infizieren wird, ist leider sehr hoch», sagt die Expertin. Man müsse nur in die Niederlande schauen, wo sich jetzt schon mehr Menschen anstecken als noch im März und im April. Es gelte jetzt, die AHA-Regeln durchzusetzen und Zusammenkünfte in schlecht belüfteten Räumen zu vermeiden. Und nicht nur das: «Die Versorgung der vielen schwer erkrankten Menschen, mit denen wir leider rechnen müssen, verlangt eine gute Koordination und Verteilung der Ressourcen auf dem gesamten Kontinent.»
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Die Corona-Lage in Europa ist in vielen Ländern beunruhigend. Das ist die Situation in sechs Ländern:
«Krach statt Krisenbewältigung» in Österreich
Mehr als 1000 neue Fälle pro Tag werden aus Österreich gemeldet, und die Kurve geht weiter nach oben. Die Auseinandersetzung darüber, wie die Corona-Krise am besten zu bewältigen ist, hat zu heftigen Kontroversen geführt. «Krach statt Krisenbewältigung», titelte der «Kurier». Die österreichische Regierung soll der Stadt Wien vorgeworfen haben, bei der Nachverfolgung von Infektionsketten zu versagen. Der Wiener Gesundheitsstadtrat kündigte den Ausstieg aus dem Krisenstab der Regierung an. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig erklärte das kurz darauf für eine Ente; natürlich mache man weiter mit. In der Hauptstadt will man nun mehr Personal für das Contact-Tracing einstellen und die Auswertung von Tests beschleunigen. Österreichs Regierung wiederum hat angekündigt, sie wolle alles tun, um einen Lockdown zu verhindern. (Cathrin Kahlweit, Wien)
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In Frankreich werden schärfere Massnahmen erwartet
Man könne «nichts mehr ausschliessen», wenn man sich die aktuelle Situation in den Spitälern anschaue, sagte Frankreichs Premier Jean Castex. 30 Prozent der Betten in den Intensivstationen des Landes sind aktuell von Covid-19-Patienten belegt. Wenn die Infektionswelle nicht abflacht, werden die Spitäler spätestens am 24. Oktober ihre Belastungsgrenze überschreiten. Fünf Monate nach Ende des ersten, 55-tägigen Lockdown steht Frankreich nun vor der Frage, ob neue, stärkere Beschränkungen nötig sind. Am Mittwochabend wird Präsident Emmanuel Macron eine Rede halten. Die Medien spekulieren bereits über die Verhängung einer Sperrstunde. Bars und Cafés sind in den meisten Grossstädten bereits geschlossen. Die Spekulationen werden zusätzlich dadurch angeheizt, dass die Regierung in der Corona-Krise keinen klaren Kurs verfolgt. (Nadia Pantel, Paris)
In Russland haben es Schutzmassnahmen schwer
In Moskau, das ist die neueste Idee des Bürgermeisters, soll jeder dritte Arbeitnehmer zu Hause bleiben. Im freiwilligen Homeoffice sind nicht genug Moskauer geblieben, also gibt es jetzt einen Erlass – und Kontrollen. Arbeitgeber mussten Listen an die Behörden schicken, Telefonnummern und Nummernschilder derjenigen angeben, die zu Hause arbeiten. Dabei haben die Behörden während dieser Pandemie ohnehin so viele persönliche Daten gesammelt, dass Datenschützern ganz schwindelig wird. In Russland ist es dabei nicht nur mit der Freiwilligkeit schwierig. Auch die Maskenpflicht in U-Bahnen und Supermärkten scheinen viele über die Sommermonate vergessen zu haben. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Russland ist längst wieder fünfstellig. Deswegen haben die Moskauer Schulen derzeit wieder zwei Wochen Zwangspause. (Silke Bigalke, Moskau)
In Belgien «stehen alle Indikatoren auf Rot»
Die Schlagzeilen werden immer düsterer. «Le Soir» titelte: «Alle Corona-Indikatoren stehen auf Rot». Es folgte «Brüssel: Die Party ist vorbei», weil in der Hauptstadt die Cafés und Bars für einen Monat schliessen müssen. Zuletzt ging es um «Szenarien für einen zweiten Lockdown». Er könne «für nichts garantieren», sagte Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke. Alle müssten Abstand halten, damit die Schulen geöffnet und die Unternehmen arbeitsfähig bleiben und die Spitäler alle Patienten behandeln könnten. «Besorgniserregend» nannte der belgische Premier Alexander de Croo die Lage, und die Zahlen werden täglich schlimmer. 4500 neue Infektionen wurden in der vergangenen Woche täglich gemeldet, ein Plus von 78 Prozent. «Bald könnten wir 10’000 neue Fälle pro Tag erreichen», heisst es aus dem nationalen Krisenzentrum. (Matthias Kolb, Brüssel)
Spanier müssen Gewohnheiten gewaltig umstellen
Viele Madrilenen sind bereit, ihren Teil dazu beizutragen, dass die hohen Corona-Zahlen wieder sinken. Sie verzichteten, trotz besten Wetters, auf einen Ausflug am langen Wochenende zum Nationalfeiertag am vergangenen Montag. Sie tragen Maske, sobald sie die Wohnungstür hinter sich zuziehen, und setzen sie nicht einmal beim Spazierengehen im Park ab. Und sie haben aufgehört, sich zur Begrüssung zu küssen und zu umarmen, was schon ein ziemlich tiefer Eingriff in die Seele der Spanier ist. Vor knapp zwei Wochen hat die spanische Zentralregierung die Hauptstadt abgeriegelt, weil die 14-Tage-Inzidenz von Madrid mit 502 Infizierten auf 100’000 Einwohner fast doppelt so hoch ist wie der spanische Durchschnitt. Im Zuge dessen wurde auch die Sperrstunde der Restaurants und Bars auf 23 Uhr festgesetzt. (Karin Janker, Madrid)
Viele Infizierte unter Spitalmitarbeitern in Tschechien
Durch einen strengen Lockdown im Frühjahr hatte Tschechien noch bis zum Spätsommer kaum neue Corona-Fälle zu verzeichnen. Am vergangenen Freitag dann wurden 8616 Neuinfektionen gemeldet. Das war zwar ein Ausreisser nach oben, trotzdem hat sich die Zahl bei etwa 5000 pro Tag eingependelt. Einen neuen Lockdown wollen die Politiker nun nicht mehr ausschliessen. Zuletzt verkündete die Regierung neue Massnahmen, wie etwa das Alkoholverbot in der Öffentlichkeit. Zudem sollen wieder alle Schüler ab der fünften Klasse zu Hause lernen, Bars und Restaurants müssen schliessen. «Wir haben einen Versuch, und der muss erfolgreich sein», sagte Premier Andrej Babis. Alarmierend hoch ist die Zahl der Infizierten unter den Spitalmitarbeitern: So haben sich schon 10 Prozent der Ärzte und 17 Prozent der Krankenschwestern angesteckt. (Viktoria Grossmann)
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