Überlebende des Hamas-Terrors in Zürich«Immer wieder schossen Terroristen in den Raum»: Wie Yuval Raphael den Angriff überlebt hat
Die 23-Jährige erzählt in Zürich vom Horror am Musikfestival, bei dem 364 Menschen von Hamas-Terroristen getötet wurden, wie sie knapp überlebte und wie es ihr heute geht.

Wir treffen Yuval Raphael am Montag morgen in einer Anwaltskanzlei in Zürich. Die junge Frau ist sehr gefasst und erzählt ruhig und ohne zu stocken vom Grauen, das sie und ihre Freunde am Morgen des 7. Oktobers erlebt haben. Sie tut das, sagt sie uns, damit die Welt nicht vergisst, was an diesem Morgen geschehen ist, was ihrem Volk angetan wurde. Hier ist ihre Geschichte:
«Meine Freundin Adar wollte zu diesem Trance-Festival gehen, wir hatten die Tickets bereits Monate zuvor gekauft. Ich war so aufgeregt, ich liebe Raves und besonders Trance. Und es war wirklich wunderschön. Die Lichter, die Bühne, unglaublich.
Wir kamen ungefähr um 23.30 Uhr auf dem Festivalgelände an und tranken noch etwas auf dem Parkplatz. Um halb vier gingen wir zur Party. Wir tanzten etwa drei Stunden, als plötzlich die Musik stoppte und Sirenen zu heulen begannen. Wir sahen Raketen am Himmel. Das gibt es in Israel ziemlich häufig, mich stresste das nicht besonders. Meine Freundin Adar aber, die das Auto fuhr, sagte: ‹Packt eure Sachen, wir gehen, sofort.› Auf der Strasse sahen wir viele Leute zurücklaufen. Ich fragte sie, was los sei, und sie antworteten, dass ganz in unserer Nähe Terroristen auf der Strasse seien. Ich rief meinen Vater an und erzählte ihm, was passierte.
Der Bunker
Etwa 200 Meter von uns entfernt sahen wir einen kleinen Raketen-Schutzraum, für etwa zehn Leute konzipiert. Wir waren aber etwa 50. Es gab keine Tür, der Raum öffnete direkt auf die Strasse. Ich habe mich in die hinterste Ecke des Bunkers gesetzt. Neben mir war eine junge Frau. Ich kannte sie nicht, aber sie hielt meine Hand und weinte hysterisch. Ich sagte, es ist okay, alles wird gut, alles wird gut. Der Beschuss wird aufhören, das Militär wird alles regeln, und dann werden wir nach Hause gehen. Ich war immer noch am Telefon mit meinem Vater, als plötzlich alle im Schutzraum ruhig wurden. Zwei Sekunden später: Schüsse. Ich liess das Telefon fallen. Das war der erste Angriff.
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Wir waren von sieben Uhr morgens bis etwa zwei Uhr nachmittags im Bunker, es sassen Menschen auf Menschen. Immer wieder schossen Terroristen in den Raum. Nach dem ersten Angriff fielen Menschen auf mich. Es war totenstill, bis wir hörten, wie sie mit dem Auto wegfuhren. Dann begannen wir zu flüstern, ich rief leise nach meinen Freunden. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass das Mädchen, dessen Hand ich hielt, tot war. Ihr Kopf lag auf meiner Schulter. Das Mädchen vor mir war auf mein Bein gefallen. Zunächst spürte ich nichts wegen des Schocks. Aber mein Bein war unter ihr verdreht und begann zu schmerzen. Und ich konnte mich nicht bewegen.
Irgendwann fand ich mein Telefon wieder und rief meinen Vater an und sagte: ‹Papa, sie sind reingekommen, sie haben auf uns geschossen. Ich habe tote Menschen auf mir.› Er fragte mich: ‹Sind die Terroristen noch in der Nähe?› Wir konnten ihre Autos hören, wenn sie zurückkamen, um erneut in den Bunker zu schiessen. Da sagte mein Vater: ‹Leg sofort das Telefon auf. Sprich nicht mit mir. Stell dich tot.› Ich legte also auf und sagte allen, sie sollten dasselbe tun.
Ich klebte an der Wand, konnte mich nicht bewegen, weil der Körper des toten Mädchens auf mein Bein drückte. Auf der anderen Seite war der Kopf der anderen Leiche. Ihr Kopf war das Einzige, was ich mit viel Kraft bewegen konnte. Ich zog sie so zu mir, dass ihre Wange auf meiner lag, damit mein Gesicht geschützt war. Auf mir oben lagen die Beine eines Mannes. Jede einzelne lebende Person hatte eine tote Person, die sie schützte.

Die Schmerzen in meinem Bein waren unerträglich. Ich schloss die Augen und stellte mir mein Bett vor, mein Haus, meine Familie. Aber der Schmerz war brutal, und ich glaubte zu spüren, wie meine Knochen zu brechen begannen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und wollte aufstehen. Aber meine Freunde beruhigten mich. Sie sagten: ‹Wenn du rausgehst, bist du tot.› Also schrie ich einfach innerlich.
Niemand sah hin, wenn die Terroristen wiederkamen, denn wenn sie deine Augen sehen, bist du tot. Aber dann war da dieses Mädchen, das nicht aufhören konnte zu weinen. Ein Terrorist fing an, sie anzuschreien: ‹Sei still! Halt die Klappe!› Dann rammte er ihr das Gewehr in den Kopf.

Am Anfang dachte ich, es seien nur zwei oder drei Terroristen. Heute weiss ich, dass es etwa 3000 waren. Sie warfen auch Granaten in den Bunker. Dann fielen kleine Stücke von superheissen Flocken auf meine Schulter, und ich konnte riechen, wie die Haut verbrennt. Aber ich rührte mich nicht. Dann spürte ich nach einer weiteren Granate, dass mein ganzer Körper benetzt wurde, wie unter einer Dusche. Ich konnte nichts sehen, weil das Gesicht der Leiche neben mir auf meinem Gesicht lag. Ich öffnete ein Auge und sah, dass es Blut war. Ein Mann war getroffen worden, und das Blut spritzte auf mich.
Irgendwann sah ich das Mädchen über mir und dass sie ein riesiges Loch im Kopf hatte. Manchmal musste ich meine Hand unter ihren Kopf legen, um mein Bein zu entlasten. Und wenn ich das tat, tropfte etwas aus dem Loch ständig auf meine Hand. Aber ich putzte es einfach ab. Während der sieben Stunden im Bunker habe ich mich darauf konzentriert, immer meine Finger zu bewegen, meine Zehen zu bewegen, damit ich mein Bein nicht verliere.
Dann war da noch dieses Mädchen. Immer wieder sagte sie: ‹Schau mich an, schau mich an.› Also habe ich aufgeschaut, und ihr ganzes Gesicht war angeschwollen, wie von einem Bienenschwarm malträtiert. Sie konnte nicht aufhören zu weinen, weil sie offensichtlich im Sterben lag.
Die Rettung
Erst als jemand den Namen einer Frau rief, die im Bunker war, wussten wir, dass wir gerettet waren. Ich konnte aber nicht aufstehen, wegen des toten Körpers. Etwas vom Schlimmsten war, dass es keinen Boden gab – nur tote, zerschmetterte Körper. Ich ging also hinaus in die Freiheit, aber musste über die Menschen gehen, die nicht überlebt hatten.
Und das wars. Elf Menschen aus dem Bunker haben überlebt, von ungefähr 50. Als ich zur Polizeistation kam, gab es dort eine Dusche. Also habe ich angefangen, mir die Haare zu waschen, und es fielen Stücke menschlicher Haut heraus. Ja. Ich weiss nicht, was ich noch sagen soll.

Das Trauma
In den ersten Wochen nach dem Angriff war ich emotional von den Geschehnissen abgekoppelt. Wenn ich darüber sprach, war es, als ob ich jemand anderes hören würde. Inzwischen ist es schwieriger, darüber zu sprechen, aber es hilft, auch wenn es schmerzhaft ist.
Israel hat eine starke Therapie-Kultur, meine Mutter ist Therapeutin. Gleich nach den Geschehnissen wurde mir beigebracht, was ich tun soll, um keine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Mich mit meinen Ängsten zu konfrontieren, darüber zu sprechen. Also habe ich etwas gemacht, vor dem ich mich am meisten fürchtete: allein schlafen, aus Angst vor Albträumen. Im Spital sagte ich zu meiner Mutter, sie solle nach Haue gehen, während ich die Nacht dort allein verbrachte. Tatsächlich hörte ich beim Einschlafen einen vermeintlichen Pistolenschuss – und bin sofort aufgewacht. Das war in der ersten Nacht nach dem Angriff. Inzwischen träume ich vom Erlebten, aber ich wache nicht davon auf.
Ich gehe zu sogenannten Heilungs-Retreats, wo Überlebende der Angriffe zusammenkommen und miteinander oder mit Therapeuten über das Trauma reden können. Ich besuche diese fast täglich. Manche Menschen zeichnen oder singen dort auch. Diese Art von Solidarität hilft mir sehr. Denn manchmal ist es schwer, mit meiner Familie darüber zu reden, weil sie nicht dabei war. Leute, die dasselbe durchgemacht haben, verstehen einen auch ohne Worte.
Die Zukunft
Ich bin entschlossen, wieder an ein Musikfestival zu gehen. Ich war mit meinen Freunden vom Festival bereits an einer Party. Ich begegnete kürzlich Ikea-Mitarbeitenden, die arabisch waren. Ich musste in einem engen Korridor an ihnen vorbeigehen. Sofort musste ich an den Bunker denken. Anstatt wegzulaufen, ging ich zu ihnen und lächelte sie an und wünschte einen guten Morgen. Ich habe diesen Horror nicht überlebt, um nicht mehr zu leben.

Ich habe mich in Israel stets sicher gefühlt, und das ist auch jetzt noch so. Zur Strategie der Regierung im Krieg kann ich nichts sagen. Ob ein Waffenstillstand weitere Freilassungen von Geiseln ermöglichen könnte? Ich weiss es nicht. Alle Leute im Gefängnis, die wir freilassen, um unsere Leute zurückzubekommen, sind Terroristen, die in den letzten Jahren versucht haben, jemanden zu töten. Ich weiss nur, dass man Terroristen nicht vertrauen kann. Sie können etwas sagen – und das genaue Gegenteil tun. Du kannst einen Waffenstillstand vereinbaren und dann feststellen, dass deine ganze Familie tot ist.
Von der internationalen Berichterstattung und jener in den sozialen Medien versuche ich mich, so weit es geht, abzugrenzen: All diese Meinungen zu so vielen irrelevanten Dingen oder Lügen zu hören, wenn du den Terror wirklich erlebt hast, fällt mir schwer. Es gibt Dinge, die sind nicht verhandelbar, die kann man nicht mit einem ‹Ja, aber› in Kontext setzen: Vergewaltigungen oder Kinder, die an den Tisch gefesselt sind und zusehen müssen, wie ihre Eltern enthauptet werden.
Wir hoffen immer auf Frieden, aber das ist wirklich schwer, wenn man weiss, dass sogar die palästinensischen Kinder manipuliert werden. Ich gebe ihnen keine Schuld. Ernsthaft, wenn dir seit deiner Geburt etwas in den Kopf gepflanzt wird, kannst du nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass du an diese Dinge glaubst. Aber diese Kinder können die Nächsten sein, die uns töten wollen. Vielleicht können wir ihnen helfen, zu erkennen, dass es anders ist als das, was ihnen beigebracht wird.
Aber es hängt nicht nur von uns ab. Es ist nicht nur in unserer Macht. Wir haben immer wieder Versuche unternommen. Aber will die andere Seite wirklich auch Frieden? Ich hoffe immer noch auf Frieden. Aber ich weiss nicht, ob ich nach den Angriffen wirklich daran glaube.»

Das Treffen mit Yuval Raphael kam auf Initiative von vier Schweizer Privatpersonen zustande: Nadine Jositsch, Jenny Baruch, Tali Scheiner und Ron Guggenheim, die sich nach dem 7. Oktober zusammenschlossen, um sich gegen Antisemitismus einzusetzen. Unter dem Namen «Neveragainisnow» haben sie bereits eine Kundgebung in Zürich organisiert, eine weitere findet heute statt. Yuval Raphael und eine überlebende Familie aus einem Kibbuz werden in den kommenden Tagen Schulen besuchen und von ihren Erfahrungen erzählen. Für Dienstag ist zudem eine Kundgebung im Grossmünster geplant. (red)
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