Streit um NotfallpauschalenHaus- und Kinderärzte wollen bis Weihnachten einen Deal mit den Kassen, Bundesrat ist besorgt
Wegen eines Bundesgerichtsurteils werden auch viele Gruppenpraxen nicht mehr für Notfalldienste entschädigt. Der Bundesrat sieht die medizinische Grundversorgung gefährdet.
- Permanencen und angestellte Ärzte dürfen Notfallpauschalen laut Bundesgericht nicht mehr verrechnen.
- Ärzte fordern eine Lösung vor Weihnachten, um die Grundversorgung zu sichern.
- Kinderärzte in Genf und im Jura drohen mit einem Streik zur Jahreswende.
Der Entscheid des Bundesgerichts von diesem Sommer ist ein Knall mit weitreichenden Folgen – weit über die Permanencen und Walk-in-Praxen hinaus. Sie dürfen keine Dringlichkeitspauschalen für Konsultationen mehr verrechnen, die zu Randzeiten und am Wochenende erfolgen. Deshalb sehen sie ihr Geschäftsmodell und ihre Existenz bedroht.
Nun zeigt sich, dass auch kleinere Praxen vom Urteil betroffen sind. Denn gemäss Bundesgericht dürfen alle angestellten Ärztinnen und Ärzte keine Dringlichkeits- und Notfallpauschalen mehr abrechnen. Viele Haus- und Kinderärzte sind heute in Gruppenpraxen tätig, und diese sind oft als Aktiengesellschaften organisiert. Die Ärzte sind demnach Angestellte ihrer eigenen AG und dürfen die Pauschalen nicht mehr verrechnen.
«Für kleine Praxen existenzgefährdend»
Laut der Ärzteverbindung FMH gefährdet dies die Existenz dieser Praxen. Zumal die Krankenkassen solche Abrechnungen auch rückwirkend zurückfordern können. Bis jetzt sei zwar erst ein kleiner Teil der Praxen mit solchen Rückforderungen konfrontiert, sagt Monika Reber, Co-Präsidentin der Haus- und Kinderärzte Schweiz. Da aber laut dem Bundesgerichtsurteil alle angestellten Ärztinnen und Ärzte keine Notfallpauschalen mehr abrechnen dürften, sei potenziell die Hälfte aller Haus- und Kinderarztpraxen betroffen.
Reber hat Kenntnis von einzelnen Rückforderungen, die kleine Gruppenpraxen betreffen und sich auf 50’000 bis 100’000 Franken belaufen. «Das sind für kleine Praxen existenzgefährdende Beträge.» Zudem schade der Rechtsstreit um die Pauschalen der Attraktivität der Kinder- und Hausarztmedizin. «Viele ältere Ärzte, die übers Pensionsalter hinaus arbeiten, werden sich überlegen, ob sie unter solchen Bedingungen noch weiterarbeiten wollen. Und junge Ärztinnen und Ärzte werden sich fragen, ob sie sich für die medizinische Grundversorgung entscheiden wollen.»
«Wir brauchen dringend Rechtssicherheit», sagt Monika Reber. Der noch geltende ambulante Tarif Tarmed gehe vom überholten Bild der Einzelpraxis aus, wo der Haus- oder Kinderarzt abends spät zu Hause angerufen wird und wegen eines Notfalls in die Praxis gehen muss. 2026 wird Tarmed zwar durch Tardoc abgelöst. Allerdings wurde im neuen Tarif die veraltete Regelung für die Notfallpauschalen übernommen. Deshalb müsse auch hier nachgebessert werden, sagt Reber.
Bund und Kantone sind besorgt
Am Freitag fand eine Krisensitzung am FMH-Sitz in Bern statt, an der auch die Kassen sowie Kantone und der Bund teilnahmen, wie der «SonntagsBlick» berichtete. Ziel der Ärzteverbindung FMH und des Verbandes der Haus- und Kinderärzte ist es, bis Weihnachten mit den Versicherern eine Lösung zu finden. Dabei müsse die Frage der Rückforderungen geklärt und eine Regelung für die Notfallpauschale für 2025 getroffen werden.
Der Bundesrat zeigt sich ebenfalls besorgt. Die Grundversorgung der Bevölkerung scheine in Gefahr, antwortete er auf zahlreiche Fragen zum Thema am Montag im Nationalrat. Allerdings verweist der Bundesrat auf die Vertragspartner – Kassen und Ärzteschaft –, die nun rasch eine Lösung finden müssten. Besorgt zeigen sich auch die Kantone. Es gelte auf jeden Fall zu verhindern, dass das Bundesgerichtsurteil Versorgungsengpässe zur Folge habe, schreibt die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren.
Kinderärzte in Genf und im Jura drohen mit Streik
Unter der Ärzteschaft ist der Unmut gross. In den Kantonen Genf und Jura drohen die Kinderärzte sogar mit einem Streik am 21. Dezember. Falls es tatsächlich zum Streik kommt, müssten die Eltern mit ihren Kindern die Notfallaufnahmen der Spitäler aufsuchen, sagt Philippe Eggimann, FMH-Vizepräsident und Präsident der Ärzteschaft der Romandie.
Der Krankenversicherungsverband Santésuisse zeigt sich bereit, Lösungen zu suchen. Allerdings sei eine Ergänzung des Tarifs vor Weihnachten schwierig, sagt Direktorin Verena Nold. Eine Tarifänderung müsste zudem noch vom Bundesrat genehmigt werden, womit eine allfällige Lösung frühestens ab Frühjahr rechtskräftig wäre.
Kurzfristig könnten laut Nold die Kantone einspringen, die für die Gesundheitsversorgung zuständig seien. Diese würden heute schon die Spitäler für sogenannte gemeinwirtschaftliche Leistungen entschädigen, also zum Beispiel für die Bereithaltung medizinischer Kapazitäten für Notfälle. Dies könnten die Kantone auch für die Grundversorgung ausserhalb der Spitäler tun, so Nold. Was die Rückforderungen anbelangt, würden sich die Santésuisse angeschlossenen Kassen auf grosse Organisationen konzentrieren und nicht auf kleine Praxen.
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