Food-Upcycling im Appenzell und bei CoopBierabfälle und Tofureste sollen auf Schweizer Tellern landen
Coop und andere Schweizer Firmen verwerten vermeintliche Abfälle der Lebensmittelindustrie. Ob die Konsumenten das essen? Am ökologischen und finanziellen Erfolg gibt es zumindest Zweifel.

- Nebenströme sind Restmaterialien aus der Lebensmittelproduktion – etwa Treber aus der Bierproduktion oder Okara aus der Tofuproduktion.
- Die Appenzeller Brauerei Locher und das Berner Start-up Luya verarbeiten diese zu Lebensmitteln.
- Forschende an der ZHAW arbeiten an Methoden, damit mehr Unternehmen ihre Nebenströme nutzen und damit Food-Waste verhindern können.
Das steinharte Brot und die verschimmelten Essensreste im Kühlschrank: Food-Waste im Haushalt kennen alle. Weniger bekannt ist, dass in der Schweiz ein Drittel der Lebensmittelverluste bereits in der Produktion entstehen: Das sind fast eine Million Tonnen pro Jahr. Ein wichtiger Teil davon sind die sogenannten Nebenströme: Restmaterialien wie Kartoffelschalen, Weizenkleie aus der Mehlverarbeitung oder Presskuchen aus der Rapsverarbeitung.
In der Regel landen Nebenströme in der Biogasanlage oder als Tierfutter im Trog. Inzwischen suchen Firmen vermehrt Wege, die Reste doch noch auf den Teller zu bringen. Mit Coop steigt nun eines der grössten Schweizer Unternehmen mit der neuen Eigenmarke «Nice to Save Food» ein und lanciert sechs Produkte.
Schon länger im Geschäft mit den vermeintlichen Essensabfällen ist die Brauerei Locher in Appenzell. Denn auch beim Bierbrauen entsteht ein Nebenprodukt, der sogenannte Biertreber. Das ist der unlösliche Teil des Malzes, aus dem Stärke und Zucker rausgepresst wurden. «Bei uns entstehen täglich 50 Tonnen Treber», sagt Geschäftsführer Aurèle Meyer.
Brauerei Locher macht aus Biertreber auch Pizza
Lange verkaufte die Brauerei den Biertreber, wie die meisten Schweizer Brauereien, an benachbarte Bauern oder liess ihn verbrennen. Seit drei Jahren macht sie daraus Lebensmittel wie Chips, pflanzliches Geschnetzeltes und Pizza: Aurèle Meyer spricht von «Food-Upcycling».

«Gerade im Sommer, wenn frisches Gras in grossen Mengen verfügbar ist, konnten wir nicht mehr allen Treber als Viehfutter verwerten», erklärt Meyer: «Das gab uns den Anstoss, neue Wege zu gehen.» Gemeinsam mit dem Start-up Upgrain entwickelte die Brauerei Locher eine Maschine, die den Treber trocknet und in ein eiweiss- und faserreiches Pulver verwandelt.
Damit er zur Grundlage für die neue Produktlinie «Brewbee» werden kann, muss der Treber möglichst schnell getrocknet werden. Es handelt sich nämlich nicht um ein ideales Ausgangsmaterial: «Treber ist warm und feucht, für die Lebensmittelproduktion also eigentlich der Horror», so Geschäftsführer Meyer.

Viele Nebenströme seien anspruchsvolle Rohstoffe, erklärt Nadina Müller. Sie leitet die Forschungsgruppe Lebensmitteltechnologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). In ihrem aktuellen Forschungsprojekt entwickelt sie Verfahren, um Nebenströme zu Lebensmitteln aufzuwerten – und arbeitet dabei auch mit Ausgangsstoffen, die schwer verarbeitbar sind, chemische Belastungen enthalten oder bitter sind.
«Trotz der Herausforderungen enthalten Nebenströme oft wertvolle Nährstoffe», sagt Müller. Wenn die verarbeitende Industrie die Nahrungsmittelverluste verringern könnte, trüge das zum Ziel des Bundesrats bei, den Food-Waste bis 2030 im Vergleich zu 2017 zu halbieren. Die Weiterverarbeitung von Lebensmitteln lohne sich aber nur, wenn sie keine zusätzliche Umweltbelastung verursache, sagt das Bundesamt für Umwelt auf Anfrage.
Luya rettet tonnenweise Reste aus der Tofuproduktion
Foodwaste verhindern will auch das Berner Startup Luya: Es arbeitet mit Okara, dem festen Teil der Sojabohne, der bei der Verarbeitung zu Tofu und Milch übrig bleibt. «Wir können es uns als Gesellschaft doch nicht leisten, die Hälfte der Sojabohne einfach wegzuwerfen», sagt Flavio Hagenbuch, Mitgründer von Luya.
Deshalb begann das Team 2021, Okara zu fermentieren und daraus Alternativen zu Fleisch herzustellen. Bisher hat die Fabrik in Bümpliz bei Bern eine Kapazität von 10 Tonnen. Doch es würde deutlich mehr Okara zur Verfügung stehen: Pro Jahr bleiben in der Schweizer Tofu- und Sojamilchproduktion rund 2000 Tonnen übrig. Zumindest einen Teil davon will künftig auch Coop verarbeiten und verkaufen. Bereits davor bot die Detailhändlerin ausgewählte Produkte von Luya und der Brauerei Locher an.
Luya vertreibt seine Produkte daneben in den Restaurantketten Lily’s und Tibits sowie in verschiedenen Spitälern. Und mit den Brewbee-Produkten aus der Brauerei kochen der Mensabetreiber ZFV und mehrere Restaurants in der Region Appenzell. Anfang Jahr nahm auch die Schweizer Armee zwei Vegiprodukte von Brewbee in ihr Verpflegungsangebot auf.

Im Coop kostet eine Pizza von Brewbee knapp sieben Franken. Das deckt gerade mal die Produktionskosten. Die Treberprodukte sind noch nicht profitabel. Coop will seine neue Marke im «mittleren bis günstigen» Preisbereich positionieren. Ob sich die Linie finanziell und ökologisch lohnen wird, kann Coop noch nicht einschätzen. «Das werden wir erst nach einer gewissen Zeit auswerten können», hiess es an einem Anlass am Freitag. Um die Akzeptanz bei der Kundschaft zu steigern, habe die Coop-Tochter Betty Bossy extra Rezepte mit den neuen Lebensmitteln entwickelt.
Die Brauerei Locher setzt derweil auf Skalierung: Bis Ende Jahr sollen 100 Prozent des Biertrebers zu Lebensmitteln verarbeitet werden. «Um möglichst viele Menschen für Upcycling zu begeistern, fokussieren wir auf Convenience-Produkte», sagt Geschäftsführer Meyer. Treber ist dabei nur eine Zutat: Die Brewbee-Chips enthalten 39 Prozent Treber, der Teig der Brewbee-Pizza sogar nur 10 Prozent. Den Verarbeitungsprozess lagert die Brauerei Locher zunehmend aus: Die Brewbee-Pizza etwa wird im Tessin hergestellt.
Wer Nebenströme verwerten will, muss investieren
Verdienen möchte die Brauerei Locher auch mit der Technologie zur Treberverarbeitung, deren Entwicklung teuer gewesen sei. Sie plant, die Maschine an weitere Brauereien in Europa zu vertreiben. Doch sie sind nicht die Einzigen: Europaweit versuchen Brauereien und Start-ups aus Treber Produkte wie Milch, Palmöl oder gar Leder herzustellen.
Schweizer Unternehmen, die in die Verwertung ihrer Nebenströme investieren möchten, können heute von Unterstützungsleistungen im Rahmen des Umweltschutzgesetzes profitieren. Der Bundesrat hat allerdings vor kurzem in einem Entlastungspaket die Streichung dieser Mittel vorgeschlagen.

Die ZHAW-Lebensmittelwissenschaftlerin Nadina Müller fände eine Abschaffung der Fördermittel zum jetzigen Zeitpunkt bedauerlich. Langfristig müsse die Verwertung von Nebenströmen jedoch idealerweise ohne Subventionen erfolgen: «Die Verarbeitung muss auch ökonomisch sinnvoll sein.» Sie geht davon aus, dass es möglich sein sollte, rund ein Viertel der Nebenströme wieder der Lebensmittelkette zuzufügen.
Damit das gelinge, sei auch firmenübergreifende Zusammenarbeit wichtig: «Wir möchten Orte der Entstehung von Nebenströmen mit passenden Nutzern der Nebenströme verknüpfen.»
Detailhändler und Gastronomen können durch den Verkauf von Upcycling-Produkten aktiv zur Nachhaltigkeit beitragen, findet Aurèle Meyer von der Brauerei Locher. «Ich war erstaunt über die anfänglichen Vorbehalte gegenüber den vermeintlichen Abfallprodukten», sagt er. «Dabei sollte es doch selbstverständlich sein, dass wir unsere Ressourcen bestmöglich nutzen.»
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