«Doktor Spielrein» am SchauspielhausDieses Wahnsinnsprojekt sprengt sogar die Triggerwarnung
In diesem Experiment wird das Zürcher Theaterpublikum einzeln empfangen und auf einen 80-minütigen Parcours geschickt. Dort wird das Ausgeliefertsein richtig spürbar.
Für einmal hätte die Triggerwarnung auch heftiger ausfallen können. «Die Inszenierung thematisiert Gewalt, psychische Krankheit, Missbrauch, Tod und die Shoah. Sensorische Warnung: In Teilen der Inszenierung wird eine Virtual-Reality-Brille getragen. Die Inszenierung findet teilweise in engen Räumen statt», heisst es auf der Website des Schauspielhauses Zürich zu der experimentellen Aufführung «Doktor Spielrein». Am Montag, vor der offiziellen Uraufführung am Mittwoch, gab es bereits Einzel-Slots im 12-Minuten-Takt.
Die Warnung ist korrekt und bereitet dennoch nicht auf das Unbehagen vor, dass das deutsch-schweizerische Kollektiv Raum+Zeit mit seiner Arbeit auslöst – auch auslösen will. Bei der Ansage rechnet man auch nicht mit diesem faszinierten Erstaunen, das sich ob der eigenen starken Reaktion einstellt.
Es ist schon so: Wenn die vierte Wand fällt, wenn Schauspielende die unsichtbare Grenze zum Publikum überschreiten, hat das immer einen speziellen, manchmal auch speziell unangenehmen Impact. Aber was das Trio Alexandra Althoff, Lothar Kittstein und Bernhard Mikeska hier konzipierte, ist mit schlichten interaktiven Flachsereien nicht vergleichbar.
Die Gruppe gestaltet beklemmende Überwältigungsmomente, um den Missbrauch zu erzählen, den Sabina Spielrein einst als Patientin und später wohl Geliebte des Psychoanalytikers C. G. Jung in Zürich erlebte; um davon zu berichten, wie Jung und Sigmund Freud die psychoanalytischen Ansätze der Wissenschaftlerin aufgriffen, sie selbst aber abserviert und vergessen wurde.
VR-Brille, Berührungen und Blindheit
Zu Beginn sitzt man allein in einem winzigen Holzverschlag. Eine an einem Haken hängende VR-Brille befiehlt: «Setz mich auf!» Dann wirft sie die Zuschauerin via Tonspur und Filmbild in Sabinas wilde Jugend hinein. «Hast du irgendetwas ausgefressen?», fragt die Stimme der Brille, und vor den Augen der Theaterbesucherin läuft ein (virtuelles) Mädchen durch eine Menge aus einer anderen Zeit: um die Jahrhundertwende, vor den zwei Weltkriegen. «Hast du die Zunge rausgestreckt? Den Vater vor den Gästen in fünf Sprachen fliessend angeschrien?» Die autoritäre Vaterfigur steht am Anfang dieser Tragödie aus Zeiten eines wenig hinterfragten Patriarchats, in dem Frauen leicht die «Hysterie»-Diagnose erhielten.
Schliesslich wirds nachtschwarz in der virtuellen Realität, es ist, als hätte jemand der Zuschauerin die Augen verbunden. Eine Helferin ergreift die Hand der Blinden, fasst sie gleichzeitig an der Schulter, schiebt sie durch Korridore, über eine Rampe, zu einem Stuhl:
Schliesslich ist es Zeit, ein erstes Mal die Brille abzunehmen: Eine überdimensionale Puppe sitzt der Zuschauerin in einer Klaustrophobie-triggernden weissen Klause gegenüber und textet über einen psychiatrisch-patriarchalen Übergriff.
Der rund 80-minütige Parcours, den man teils blind und geführt, teils virtuell und teils ohne VR-Brille absolviert, ist ein Stationenweg: Er konfrontiert mit verschiedenen Leidensmomenten in Spielreins Leben, die sich durch den Kontakt mit C.G. Jung ergaben, und deutet das furchtbare Ende an. 1942 wurde die russisch-jüdische Medizinerin und Psychoanalytikerin zusammen mit ihren zwei Töchtern von der SS ermordet.
Da wächst eine Ur-Angst
Vor diesem Lebensweg muss das eigene Unbehagen verblassen. Trotzdem: Besonders die Einzelbegegnungen mit den Schauspielern bespielen eine, fast will man sagen: Ur-Angst. Wenn sich der gross gewachsene Maximilian Reichert als C. G. Jung in der engen Kammer viel zu nah über die stumme Zuschauerin beugt, ihr auf die Pelle rückt und immer wieder nach ihren Träumen fragt, pocht ihr Fluchtimpuls.
Auch die Begegnung mit Tabita Johannes als wütender, erniedrigter Spielrein, die für ihre akademische Anerkennung kämpft und der Theaterbesucherin dabei unerbittlich direkt in die Augen schaut, ist keineswegs gemütlich. In Julia Jentschs bitterer Freundlichkeit wiederum, Spielreins finalem Gruss, lauert die entsetzliche deutsche Geschichte.
Raffiniert ist, dass wir zum Schluss das Räderwerk dieser aufwendigen Inszenierung quasi von aussen beobachten können: die erschöpften Schauspieler, die sich von der brutalen Innigkeit ihrer Einzelkontakte zwischendurch kurz erholen, schnell die Hände desinfizieren. Oder einen Theaterbesucher, dem wir durch ein Spiegelglas dabei zusehen, wie er sprachlos um Fassung ringt, während Reichert ihn angeht. Buchstäblich ein Wahnsinnsprojekt, mit technischer Gewitztheit und psychischer Wucht. Ein Ausnahmetheater – das es auch bleiben sollte.
Doktor Spielrein läuft ab dem 23. Oktober in der Schiffbau-Matchbox.
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