Folge von RekursenGibt es in der Schweiz bald nur noch Riesen-Windräder?
Verfahren gefährden Windparks, weil sie bis zum Bau veraltet und kaum mehr erhältlich sind. Dann kommen 160 Meter lange Anlagen zum Zug – grösser als ein Fussballfeld.
«Wir mussten pressieren», sagt Markus Russi. «Sonst hätten wir ein Problem bekommen.» Russi ist Vizepräsident des Elektrizitätswerks Ursern im Kanton Uri. Dort, oberhalb von Andermatt, steht der Windpark Gütsch mit seinen vier Windrädern.
Das älteste davon, 2004 gebaut, soll ersetzt werden. Zusätzlich plant das Elektrizitätswerk Ursern mit der EWA Energie Uri AG drei neue Anlagen. Künftig soll der Windpark gegen 20 Gigawattstunden Strom pro Jahr produzieren und so 4400 Haushalte versorgen können, etwa viermal so viel wie heute. Der Baustart ist im nächsten Frühjahr.
Beeilen musste sich das EW Ursern, um noch jene Anlagentypen zu erhalten, die es für den Standort auf 2300 Metern benötigt. Warum? Auf dem Gütsch sind – wie an vielen Orten in den Alpen – die Winde aufgrund der Topografie turbulent und böig, grosse Anlagen, wie sie typischerweise im Flachland stehen, wären derart starken Windscherungen ausgesetzt, dass sie viel zu oft abgestellt werden müssten, wie Russi sagt.
Es braucht dort oben deshalb vergleichsweise kleine Anlagen. Das heisst: solche mit einem Rotordurchmesser von 71 Metern statt wie üblich 120 bis 160 Metern. «Wir mussten diese kleinen Anlagen bis Ende 2023 bestellen», sagt Russi vom EW Ursern. Denn die Hersteller von Windenergieanlagen hätten kleinere Anlagen immer seltener im Angebot.
Grosse Anlagen bringen viel mehr Energie
Stefan Schindler bestätigt dies. Er arbeitet beim deutschen Unternehmen Reencon, das Windparks plant und baut. «Man kann heute eigentlich keine Anlagen mit einem Rotordurchmesser von weniger als 120 Metern mehr bestellen», sagt Schindler. Falls doch, gelinge dies nur noch mit viel Aufwand, Glück und Mehrkosten. Auch die Generation bis 140 Meter Rotordurchmesser sei bereits «am Auslaufen».
Diese Entwicklung ist ökonomisch getrieben. Mit zunehmender Grösse steigt der Energieertrag pro Windrad überproportional, die Erzeugungskosten sinken dagegen, es braucht für die gleiche Energiemenge weniger Windräder. Eine neue Windenergieanlage ist im Schnitt zwanzigmal produktiver als noch vor 30 Jahren. Daher ist die Nachfrage nach kleineren Anlagen in den letzten Jahren weltweit immer weiter und sehr stark geschrumpft.
Jene Hersteller, die noch kleinere Modelle anbieten, bekommen das zunehmend zu spüren. In Europa ist das nur noch Enercon mit Sitz im deutschen Bundesland Niedersachsen. «Doch auch wir sind gezwungen, bei zu geringen Stückzahlen die Produktion einzustellen, da Personal und Produktionsflächen für grössere Anlagen benötigt werden», sagt Robin Borgert, bei Enercon Verkaufschef für Nord- und Osteuropa, Österreich und die Schweiz.
So hoch wie der Uetliberg-Sendeturm
Dass Windräder immer grösser werden, ist mit blossem Auge zu erkennen. Das weltweit grösste Rotorblatt, gebaut vom deutsch-spanischen Konzern Siemens Gamesa in Dänemark, ist 115 Meter lang, länger als ein Fussballfeld, bei den Anlagentürmen geht die Entwicklung bereits in Richtung 200 Meter Höhe, so hoch also wie der Sendeturm auf dem Uetliberg in Zürich.
Die rasante technische Entwicklung und damit auch das Grössenwachstum stellen Windparkbetreiber insbesondere in der Schweiz vor Probleme. Denn hierzulande dauert es aufgrund komplexer Verfahren und Einsprachen in der Regel 15 bis 20 Jahre von der Planung bis zum Bau eines Windparks – drei bis viermal länger als im Ausland.
So war es auch beim ersten Windpark im Kanton Waadt, der letztes Jahr in Sainte-Croix in Betrieb ging – nach 20 Jahren Planung und Genehmigungsverfahren sowie 12 Jahre nach dem ersten Vertragsabschluss. «Zum Glück hatten wir die entsprechende Anlage noch im Programm», sagt Borgert von Enercon. Allein in diesem Jahr hat Enercon mit Projektentwicklern vier Verträge geschlossen, alle mit Anlagen, die gerade aus der Enercon-Produktion ausscheiden. Verzögert sich ein Windparkprojekt beispielsweise wegen Einsprachen, kann es zeitlich knapp werden. «Wir informieren die Kunden dann rechtzeitig bei einer Produktabkündigung», sagt Borgert.
Neue Anlage, neue Verzögerungen
Die Kunden müssen sich dann entscheiden: Entweder treten sie trotzdem auf den Vertrag mit Enercon ein, was ein Risiko bedeutet, solange nicht klar ist, wann das Projekt alle politischen, rechtlichen und behördlichen Hürden genommen hat und der Baustart erfolgt. Oder aber sie warten ab, bis Klarheit herrscht – dann allerdings müssen sie sich auf dem Markt unter Umständen nach alternativen Anlagen umschauen, weil es das ursprünglich eingeplante Anlagenmodell nicht mehr gibt.
Das wiederum macht Änderungen am Windparkprojekt nötig. Sind diese wesentlich, muss die ganze Nutzungsplanung mit Umweltverträglichkeitsprüfung neu gemacht werden – wie bei jedem anderen Infrastrukturprojekt auch. Und das verzögert das Projekt weiter.
Die Branche hofft deshalb auf den sogenannten Windexpress: Das Parlament hat letztes Jahr beschlossen, die Bewilligungsverfahren für Windanlagen im nationalen Interesse, die über einen rechtskräftigen Nutzungsplan verfügen, zu erleichtern. Davon profitieren werden in erster Linie Windparkprojekte, die bereits 10 bis 15 Jahre in Planung sind.
Kampf für mehr Planungsfreiheit
Die Windkraftbranche will die Risiken für Verzögerungen weiter verkleinern – indem Windparkbauer den Typ der Anlage nicht von vornherein festlegen müssen. Ein aktueller Gerichtsfall zeigt aber die Schwierigkeiten. Die beiden Energieunternehmen Services Industriels de Genève (SIG) und Group E wollen im Kanton Neuenburg den Windpark Montagne de Buttes bauen, geplant sind 19 Anlagen. Im letzten Herbst genehmigte das Bundesgericht den kantonalen Nutzungsplan.
Diesen Juni annullierte aber das Kantonsgericht Neuenburg die Baubewilligungen für den Windpark; Beschwerde erhoben hatte die Vereinigung Les Travers de Vent. Die Baubewilligungen, argumentierte sie, könnten nicht erteilt werden, weil der Typ der Windturbine nicht festgelegt worden sei. Ihrer Ansicht nach muss die Wahl des Modells zum Zeitpunkt der Baubewilligung erfolgen. Das Gericht folgte dieser Argumentation.
Die Konsequenz: Die Entwickler von Windparks müssen die Windturbinen bereits zu Beginn des Bauverfahrens definieren, kaufen und lagern, in diesem Fall hätten sie das bereits 2014 tun müssen. Diese Vorgabe stellt für die SIG und Groupe E ein «erhebliches Hindernis» dar, da sie den Einsatz der neuesten Innovationen in den Bereichen Lärmminderung, Leistungsverbesserung und Management geplanter Stillstandszeiten verhindere. Zudem seien die Modelle, die 2014 zum Zeitpunkt der öffentlichen Auflage des Projekts Montagne de Buttes verfügbar waren, heute nicht mehr erhältlich, «was diese Anforderung undurchführbar macht».
Rückbau des Windparks Gütsch?
Die beiden Energieunternehmen ziehen den Fall nun ans Bundesgericht weiter. «Wir hoffen, dass das Urteil des Kantonsgerichts aufgehoben wird», sagt Marc Spitzli, der bei der SIG für das Projekt verantwortlich ist. Es wäre ein Präzedenzurteil, das es allen Windparkbauern ermöglichen würde, in ihren Unterlagen nur Richtwerte für die geplanten Windturbinen anzugeben. «Dadurch wären sie nicht gezwungen, eine Windkraftanlage und einen Hersteller bereits vor der Erteilung der Baugenehmigungen auszuwählen», sagt Spitzli.
Zurück nach Andermatt. Im Fall des Windparks Gütsch gibt es ein anderes Problem. «Bereits in ein paar Jahren wird es vermutlich keine Anlagen mehr geben, die auf dem Gütsch aufgestellt werden können», sagt Russi vom EW Ursern. Müssen die nun geplanten Anlagen in 20 bis 30 Jahren ebenfalls wieder erneuert werden, stellt sich für den Windpark die Existenzfrage.
Womöglich bleibt dann nur noch eine Möglichkeit: die Windenergieanlagen abzubauen.
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