Klassenzimmer öffnen am 11. MaiNeue Regeln für Schulen sorgen bereits für Streit
Lehrer und Schulleiter warnen, das Schutzkonzept des Bundes für die Öffnung der Schulen werde Eltern verunsichern. Die kantonalen Bildungsdirektoren dagegen sind froh, dass sie viel Spielraum erhalten.
«Mit diesem Konzept können wir die Schulen guten Gewissens wieder hochfahren», sagt Silvia Steiner, Zürcher Regierungsrätin und oberste Bildungsdirektorin der Schweiz. Am Mittwoch hat der Bundesrat entschieden, unter welchen Begleitmassnahmen die Primar- und Sekundarschulen ab dem 11. Mai den Präsenzunterricht wieder aufnehmen sollen.
Das Konzept lässt den Kantonen relativ viel Spielraum. «Der Bundesrat kann nicht jedes Detail regeln», sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga vor den Medien. An den Schulen nimmt man dies mit Unverständnis zur Kenntnis: «Wir hätten uns klare und einheitliche Vorgaben für alle Kantone gewünscht», sagt Thomas Minder, Präsident des Verbands der Schulleiter.
Das Schutzkonzept des Bundes basiert auf Annahmen, die in den letzten Tagen für heftige Diskussionen gesorgt haben. Die Spezialisten im Bundesamt für Gesundheit gehen vom Grundsatz aus, dass Kinder erstens nur selten erkranken und zweitens das Virus kaum an andere Personen weitergeben. Die Annahmen werden zu Beginn des fünfseitigen Konzepts mit Zahlen und Expertenaussagen untermauert. Etwa damit, dass lediglich ein Prozent der Corona-Erkrankungen Kinder unter 10 Jahren betreffen. Andere Fachleute sind in dieser Frage allerdings noch zurückhaltend, denn die Datenlage zu Kindern und ihrer Rolle in der Pandemie ist dünn. «Wir vertrauen auf die Einschätzung der Gesundheitsexperten des Bundes», sagt Silvia Steiner dazu.
Das Schutzkonzept umfasst unter anderem die folgenden Punkte:
- Abstand: Von den Lehrern und anderen erwachsenen Personen an den Schulen wird erwartet, dass sie zwei Meter Abstand zueinander und den Schülern halten. Für die Kinder untereinander gilt das hingegen nicht. Kleine Kinder würden solche Regeln gar nicht einhalten, heisst es im Konzept. Für über 10-Jährige können die Kantone Regeln erlassen, wenn sie es für nötig halten. «Müssten alle Kinder zwei Meter Abstand zueinander halten, könnten wir die Schulen gar nicht öffnen», sagt Steiner. Im Vorfeld hatten vor allem Westschweizer Kantone verbindliche Abstandsregeln gefordert.
- Absenzen: Sämtliche Kinder sollen wieder in die Schulen gehen – mit Ausnahme jener, die an einer Vorerkrankung leiden. Kinder, die selber gesund sind, aber mit einer Person aus einer Risikogruppe zusammenleben, sollen grundsätzlich zur Schule gehen können. Die Schulen sollen für sie individuelle Lösungen finden. Der Lehrerverband pocht darauf, dass unbürokratisch vom Präsenzunterricht dispensiert wird, wer mit einer gefährdeten Person zusammenlebt oder selber gefährdet ist.
- Masken und Handschuhe: Solche Schutzartikel werden im Konzept explizit nicht empfohlen für Kinder. Die Eltern dürften ihren Sprösslingen schon Masken mitgeben, so Steiner. «Ich würde mich einfach nicht darauf verlassen, dass die Kinder diese dann auch lammfromm tragen. Die Haupterkenntnis wäre am Ende des Tages wohl, welches Kind die Maske am weitesten spicken kann.»
- Hygiene: In den Schulhäusern werden vor Klassenzimmern und an anderen sensiblen Orten «Handhygienestationen» mit Flüssigseifespendern und Einmalhandtüchern aufgebaut. Desinfektionsmittel kommt nur in Ausnahmefällen zum Einsatz. Zusätzliche Arbeit dürfte zudem auf die Schulabwarte zukommen: Das Konzept schreibt vor, dass Oberflächen, Schalter, Türfallen und Fensteröffner, Toiletten und Lavabos regelmässig gereinigt werden müssen, «wenn möglich mehrmals täglich».
- Quarantäne: Treten an einer Schule trotz aller Vorsichtsmassnahmen Corona-Fälle auf, wird sie nicht einfach geschlossen. «Sollte ein Fall auftreten, wird es ein Contact-Tracing geben, und die engen Kontaktpersonen müssen in die Quarantäne», sagt Bildungsdirektorin Steiner. Das Sicherheitskonzept des Bundes besagt, dass mit «engen Kontaktpersonen» vor allem Familienmitglieder gemeint sind – und nicht die Mitschüler.
«Dieses Schutzkonzept wird vor allem bei den Eltern sehr viele Fragen auslösen»
«Das Schutzkonzept lässt den Kantonen und Schulen den Raum, die Massnahmen so umzusetzen, wie es lokal Sinn macht», bilanziert Bildungsdirektorin Steiner. Dagmar Rösler, die Präsidentin des Lehrerverbandes, sagt hingegen: «Dieses Schutzkonzept wird vor allem bei den Eltern sehr viele Fragen auslösen, wenn sie merken, dass der Schulbetrieb je nach Kanton, Gemeinde oder Schulhaus anders hochgefahren wird.» Dabei müsse es doch jetzt darum gehen, Vertrauen zu gewinnen.
Steiner nimmt ebenfalls wahr, dass viele Leute Angst haben, ihre Kinder wieder in die Schule zu schicken. «Das Gefühl, dass man sich im öffentlichen Raum und in den Schulen sicher fühlen kann, muss sich erst wieder entwickeln», sagt sie. Allerdings sei es gerade für die Kleinsten wichtig, dass wieder eine gewisse Normalität einkehre. «Es gilt, das Urvertrauen der Kinder wieder aufzubauen. Ihre Psyche, ihr freies Denken, soll nicht durch zahllose Regeln eingeschränkt werden.»
Die Schulen machen sich nun mit Hochdruck daran, das Schutzkonzept umzusetzen. Der Fahrplan sei sportlich, so Steiner. «Am 11. Mai wird ziemlich sicher noch nicht alles wie am Schnürchen laufen. Vielleicht müssen wir in dem Fall halt einmal auf den Swiss Finish verzichten.»
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