Kolumne «Tribüne»Neue Energie
Michael Wiederstein, Publizist und Executive Editor bei getAbstract, denkt über die Weiterentwicklung der Atomenergie nach.

Anfang des Monats, die russische Invasion der Ukraine hatte gerade erste massive Sanktionen des Westens provoziert – und noch nie hatte ich für den Liter Benzin mehr bezahlt –, musste ich nach Luxemburg. Von Thalwil führt der schnellste Weg dorthin durch die lothringische Montanregion, in der noch bis Ende der 1990er-Jahre im grossen Stil Steinkohle und Eisenerz abgebaut wurden, vorbei an neuen Windparks – und an den weithin sichtbaren Kühltürmen des Atomkraftwerks Cattenom. Es gehört mit einem Anteil von 8 Prozent an der Gesamtproduktion zu den leistungsstärksten im Land, das bereits Atomstromweltmeister beim Anteil am nationalen Energiemix ist und die Technologie weiter forcieren wird, während die Nachbarn den Ausstieg beschlossen haben. Die Schweiz gehört politrhetorisch zwar zu Letzteren, ist aber eine Hauptimporteurin französischer Kernenergie. Tendenz: steigend.
Cattenom hat monströse Ausmasse, und es wirft seine Schatten neuerdings bis in die Schweiz: Kann es sein, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik vernachlässigt haben, sondern auch die strategische Energiepolitik? Und stellt sich der viel kritisierte «französische Weg» am Ende doch als der bessere heraus? Bill Gates gab in seinem Bestseller «Wie wir die Klimakatastrophe verhindern» schon 2021 eine Antwort in Form eines flammenden Plädoyers für die Atomenergie: Das Kernkraftwerk der Zukunft, das nur noch ein Tausendstel der giftigen Abfälle heutiger Brüter produziere, so Gates, sei schlicht alternativlos, wenn es um effektiven Klimaschutz und Versorgungssicherheit gehe. Der Milliardär ist kein windiger Nuklearlobbyist, sondern bildet bloss den energie- und klimawissenschaftlichen Konsens ab, der im Januar schon die EU dazu veranlasste, die Kernenergie als «nachhaltig» zu klassifizieren – zur grossen Verwunderung Deutschlands und der Schweiz.
Mehr Frankreich wagen? Warum nicht! Die Anzeichen eines politischen Umdenkens, das endlich Sauberkeit, Sicherheit und moralische Integrität in Energiefragen miteinander verbindet, mehren sich. Wozu noch russisches Erdgas oder saudisches Öl importieren, wenn die Weiterentwicklung der Atomenergie in Kombination mit Solar-, Wind- und Wasserkraft mittelfristig einen europäischen Mix ermöglicht, der gleichzeitig emissionsfrei, wirtschaftlich, lokaler, stets verfügbar und vor allem eins ist: unabhängig von irren Regimes? – Eben.
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