«American Primeval» von NetflixGnadenlos – und der beste Western seit langem
Keine Helden, keine Erlösung, aber überwältigende Bilder: In der Mini-Serie «American Primeval» wird die Eroberung des amerikanischen Westens zur brutalen Parabel auf den totalen Verlust von Menschlichkeit.
Die Eroberung des amerikanischen Westens ist kein Heldenepos – sie ist eine düstere Klage über den Verlust aller Menschlichkeit und Moral. «American Primeval», die neue sechsteilige Netflix-Serie, entlarvt nicht nur den falschen Mythos von der heroischen Landnahme durch den weissen Mann, sondern zerlegt obendrein das Genre des Western in seine Einzelteile und setzt diese neu zusammen.
Kritiker sprechen von einem «Meisterstück» (FAZ), das «unerbittlich düster» («The Times») ausgefallen ist – dies nicht nur, weil Schlamm und Morast auf mehr Screentime kommen als manche Darsteller.
Sicher ist: Dreckiger, brutaler und blutiger war kaum ein Western zuvor. Regisseur Peter Berg, der in einem Interview mit der «New York Times» sagte, «Amerika ist aus Krieg und Blut und Tod geboren», gelangen geradezu apokalyptische Szenen.
«American Primeval» erzählt vom historisch verbürgten Mountain-Meadows-Massaker in Utah, bei dem 1857 rund 140 Siedlerinnen und Siedler niedergemetzelt wurden. Mormonenmilizen aus dem Süden, verbündet mit indigenen Kriegern, verübten die Untat. Berg verzichtet auf herkömmliche Hollywood-Glättungen und zeigt auch bei der Darstellung des Massenmordes an den Migrantinnen und Migranten die rohe Brutalität der Ereignisse.
«American Primeval» zeigt die vermeintlich Schwachen in den Hauptrollen
Die Kamera bleibt auf den Opfern, lässt ihre Angst und Verzweiflung spürbar werden und verzichtet auf Überhöhungen. Hier stirbt niemand heldenhaft, Männer, Frauen, Kinder und Babys werden abgeschlachtet wie Vieh. Die Mormonen rechtfertigen ihre Taten mit der göttlichen Mission, das «gelobte Land» zu verteidigen. Sie sehen sich als Auserwählte, die im Namen Gottes über Leben und Tod entscheiden. In Wahrheit sind sie blindwütige Terroristen, besessen davon, nicht nur Utah, sondern ganz Amerika in einen Gottesstaat zu verwandeln.
Die Serie verwebt ihre zentralen Handlungsstränge um die Ereignisse des Massakers. Während im klassischen Western Frauen und Kinder auf Randfiguren reduziert sind, stellt «American Primeval» diese vermeintlich Schwachen ins Zentrum.
Allen voran die Hauptfigur Sara Rowell (Betty Gilpin), die zusammen mit ihrem Sohn Devin (Preston Mota) auf der Flucht vor Kopfgeldjägern ist; diese jagen sie, weil sie ihren gewalttätigen Gatten erschossen hat. Dann die junge Siedlerin Abish Pratt (Saura Lightfoot-Leon): Als einzige Überlebende des Massakers gerät sie in die Hände des Schoschonen-Stammes, schliesst sich den Indigenen an. Schliesslich die junge Indigene Two Moons (Shawnee Pourier): Sie schneidet in ihrem ersten Auftritt dem eigenen Vater die Kehle durch, da der sie vergewaltigen will.
Sexuelle Gewalt verübt an Frauen und Kindern ist ein Topos, den die Serie immer wieder aufgreift. Er steht für die Entmenschlichung der Männer im gnadenlosen Kampf ums Überleben, in dem es kein Mitgefühl und keinen Trost mehr gibt, sondern nur Chaos, Angst und Gewalt. Die Schoschonen-Führerin Winter Bird (Irene Bedard) fragt in einer Szene: «Was treibt diese weissen Männer an, dass sie so vom Tötungswahn erfüllt sind?»
Die Suche nach Erlösung
Als wäre ein Kampf aller gegen alle nicht Horror genug, wird in «American Primeval» die Natur zum unbarmherzigen Feind des Menschen. Mit fesselnden Bildern inszeniert Regisseur Peter Berg diese wie eine eigenständige Protagonistin. Lange Einstellungen von Schneelandschaften erinnern an die frostigen Bilder in «The Revenant», dessen Drehbuch ebenfalls von Mark L. Smith geschrieben worden ist. Die Natur ist in «American Primeval» eine bedrohliche Macht und scheint genauso erbarmungslos zu töten wie die Menschen.
Taylor Kitsch verkörpert in der männlichen Hauptrolle den innerlich zerrissenen Trapper Isaac, er soll Sara, Devin und Two Moons sicher durch die Anarchie der Gewalt führen. Gezeichnet vom Verlust seiner Frau und seines Sohnes, die brutal ermordet wurden, wird sein Überlebenskampf zum Ausdruck einer verzweifelten Suche nach Erlösung. Dabei steht seine Figur exemplarisch für das Schlüsselmotiv der Serie: den Kampf, Menschlichkeit in einer Welt zu bewahren, in der es diese längst nicht mehr gibt.
Natürlich gibt es auch Kritikpunkte: Die Kameraarbeit setzt zwar auf eine immersive Handkamera-Ästhetik, driftet dabei aber oft in hektisches Gewackel ab, das mehr irritiert als fesselt. Auch der Sound, der mit bewusst übersteuerten, lauten Effekten arbeitet, wirkt in seiner Dauerpräsenz anstrengend und aufdringlich. Trotzdem: «American Primeval» ist die beste Western-Serie seit langem.
«American Primeval» läuft auf Netflix.
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