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Rundschreiben aus Den Haag
Haftbefehl-Anträge gegen Hamas und Netanyahu – wie es dazu kam und was jetzt passiert

Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu (C) attends a ceremony on the eve of the Memorial Day for fallen soldiers (Yom HaZikaron), at the Yad LaBanim Memorial in Jerusalem on May 12, 2024. (Photo by DEBBIE HILL / POOL / AFP)
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Bislang ist es nur ein erster Schritt: Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, Karim Khan aus Grossbritannien, hat am Montag erklärt, er habe einen Antrag auf einen Haftbefehl gegen drei Anführer der radikalislamischen Hamas sowie gegen zwei Männer der israelischen Regierung gestellt. Wer entscheidet nun, wie es weitergeht? Welche Folgen hätten solche Haftbefehle, wenn sie bewilligt würden? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wer ist beim IStGH zuständig für die Entscheidung, ob nun tatsächlich Haftbefehle erlassen werden?

Es sind drei Frauen. Die drei Richterinnen der sogenannten Vorverfahrenskammer sind Iulia Motoc aus Rumänien, Reine Alapini-Gansou aus Benin und Socorro Flores Liera aus Mexiko. Sie bekommen nun den Antrag des Chefanklägers vorgelegt – und müssen prüfen, ob seine Vorwürfe ausreichend belegt zu sein scheinen. Im Schweizer Recht würde man von einem «dringenden Tatverdacht» sprechen. Diese Prüfung geschieht still und hinter den Kulissen, Prozesstermine gibt es dabei nicht. Stattdessen wird irgendwann – voraussichtlich in einigen Tagen – einfach ihre Entscheidung nach erster Durchsicht verkündet.

Was geschieht, wenn die Haftbefehle erlassen werden?

Aus dem Gerichtsgebäude des IStGH, das in einem ruhigen Teil der niederländischen Stadt Den Haag liegt, würde dann ein Rundschreiben in alle Kontinente verschickt werden, an insgesamt 124 Aussenministerien, auch an das von Ignazio Cassis geführte EDA in Bern. Der Inhalt: Gemäss dem Statut des IStGH sind alle Mitgliedsstaaten des Gerichtshofs von sofort an aufgefordert, die genannten Personen zu verhaften und nach Den Haag zu überstellen. Israel selbst ist kein Mitglied des IStGH. Die USA sind es ebenfalls nicht. Die arabischen Staaten sind es – mit Ausnahme Jordaniens und Tunesiens – ebenfalls nicht.

Yahya Sinwar, head of Hamas in Gaza, greets his supporters during a meeting with leaders of Palestinian factions at his office in Gaza City, Wednesday, April 13, 2022. The chief prosecutor of the International Criminal Court said Monday he is seeking arrest warrants for Israeli and Hamas leaders, including Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu, in connection with their actions during the seven-month war between Israel and Hamas. Yahya Sinwar is one of the three Hamas leaders believed to be responsible for war crimes and crimes against humanity in the Gaza Strip and Israel. (AP Photo/Adel Hana)
Yahya Sinwar

Worin bestehen die juristischen Vorwürfe gegen die Hamas-Führer?

In erster Linie geht es um das Geschehen am 7. Oktober des vergangenen Jahres, also die Massaker an Zivilisten in israelischen Kibbuzim und Dörfern sowie die Verschleppung zahlreicher Geiseln. Hierbei betont der Chefankläger, diese Verbrechen würden «bis heute anhalten». Die Vorwürfe gegen Yahya Sinwar, den Hamas-Chef in Gaza, Mohammed Deif, den Anführer der Qassam-Brigaden, sowie den in Katar residierenden Chef des Politbüros, Ismail Haniya, lauten unter anderem: vorsätzliche Tötung und «Ausrottung» von Israelis «im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung» – strafbar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt im Rahmen dieses «systematischen Angriffs» stellten Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Die Entführung und die Misshandlung von Geiseln seien zudem strafbar als Kriegsverbrechen.

Interessanterweise fehlt der militärische Beschuss israelischer Wohngebiete mit Raketen – sowie auch der Missbrauch der eigenen palästinensischen Bevölkerung als «menschliche Schutzschilde», mit anderen Worten deren bewusste Platzierung in der Schusslinie.

Auf welche Beweismittel stützen sich diese Vorwürfe?

Der Haager Chefankläger, dessen Gaza-Ermittlungen seit kurzem von dem erfahrenen britischen Staatsanwalt Andrew Cayley geleitet werden, spricht von «medizinischen Unterlagen», Videodokumenten sowie den Aussagen von Überlebenden der Hamas-Geiselhaft, die «den Mut gehabt» hätten, sich an den IStGH zu wenden. Die Tatsache, dass die drei genannten Hamas-Führer die Geiseln in deren Haft besichtigt hätten, belege, dass sie hinter diesen Verbrechen stehen würden. Als Befehlshaber der Attacken auf Israel trügen sie ausserdem eine Gesamtverantwortung.

Worin bestehen die juristischen Vorwürfe gegen den israelischen Premier Benjamin Netanyahu und dessen Verteidigungsminister Yoav Gallant?

Hier geht es um die Kriegsführung in Reaktion auf die Hamas-Attacken des 7. Oktober 2023, und auch hier geht es juristisch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen. Israels Kriegsführung setze mindestens seit dem 8. Oktober darauf, die Bevölkerung des Gazastreifens «auszuhungern», um sie «kollektiv zu bestrafen» und um auf diese Weise Druck auf die Hamas auszuüben, die israelischen Geiseln freizulassen.

Unter anderem habe Israels Armee am 8. Oktober die Zufuhr von Wasser, Nahrungsmitteln, Medizin und Elektrizität für einige Zeit abgeschnitten und schneide diese Versorgung auch seither «willkürlich» immer wieder ab. Auch Attacken auf Hilfsorganisationen sowie auf Menschen, die für Hilfsgüter anstehen, würden zu diesem «gemeinsamen Plan» der israelischen Führung gehören, so der Vorwurf. Hinzu kämen «absichtsvolle» Attacken auf zivile Ziele. Einen Vorwurf eines «Genozids» erhebt der Chefankläger des IStGH indes nicht.

Auf welche Beweismittel stützen sich diese Vorwürfe?

Der IStGH-Chefankläger spricht davon, dass Israels Premierminister Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant für die genannten Verbrechen persönlich verantwortlich seien, weil sie diese teils selbst direkt angeordnet, teils zumindest gebilligt hätten. Für die Auswirkungen der genannten Hungerpolitik beruft sich der Chefankläger auf «zahlreiche Zeugen», die von IStGH-Mitarbeitern befragt worden seien, unter ihnen seien palästinensische sowie auch internationale Ärzte.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die drei IStGH-Richterinnen die Haftbefehle genehmigen?

Sehr wahrscheinlich. Es ist zwar schon mal vorgekommen, dass ein IStGH-Chefankläger einen Haftbefehl beantragt hat und dann mit diesem Antrag gescheitert ist. Das war im Jahr 2009, damals ging es um den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir. Der Vorwurf lautete Völkermord in der sudanesischen Provinz Darfur. Die Beweise reichten aus Sicht der Vorverfahrenskammer damals nicht aus, um einen dringenden Tatverdacht zu begründen – bis der Chefankläger im Jahr darauf weitere, zusätzliche Beweismittel nachreichte und doch noch reüssierte. Beobachter halten es auch jetzt im Falle Gazas für denkbar, dass die drei Richterinnen nicht alle der zahlreichen Vorwürfe mittragen. Aber diesmal sind die Vorwürfe so breit und vielfältig, dass Haftbefehle daran kaum ganz scheitern würden.

Der israelische Rechtspolitiker Naftali Bennett, der derzeit nicht der Jerusalemer Regierung angehört, hat als Reaktion auf die Ankündigungen aus Den Haag am Montag bereits den Aufruf gestartet: «Defund the ICC». Das heisst übersetzt: Entzieht dem Internationalen Strafgerichtshof das Geld. Wer finanziert überhaupt den Strafgerichtshof?

Der IStGH finanziert sich durch Beiträge seiner 124 Mitgliedsstaaten, die gemeinsam ein Jahresbudget von etwa 187 Millionen Euro überweisen, gestaffelt nach deren jeweiliger wirtschaftlichen Stärke. An der Spitze steht Deutschland als wirtschaftsstärkstes Mitgliedsland, denn China oder die USA sind keine Mitglieder.

Was hiesse ein Haftbefehl praktisch: Würde zum Beispiel Netanyahu, wenn er jemals wieder die Schweiz beträte, verhaftet und nach Den Haag geflogen werden?

Die Schweiz wäre dazu jedenfalls vertraglich gegenüber dem IStGH verpflichtet, und zwar für alle Zeiten, denn die Vorwürfe des Strafgerichtshofs verjähren nicht. In der Vergangenheit haben zwar manche Staaten, etwa Südafrika oder auch Jordanien, in anderen Fällen versucht, eine solche Pflicht zu ignorieren – folgenlos. Aber insbesondere Deutschland und andere Europäer haben dann immer streng an die Verträge erinnert.