Verurteilung in MoskauNawalny verhöhnt Putin als «Unterhosengiftmörder»
Der angeklagte Kremlkritiker muss 32 Monate ins Straflager. Vordergründig ging es bei dem Prozess um Verstösse gegen Bewährungsauflagen. Doch in Wahrheit ging es um Putin.
Schon auf dem Weg morgens ins Gericht sieht die Stadt verändert aus. An grossen Plätzen stehen Polizei und Nationalgarde, sie haben Gefangenentransporter mitgebracht. Offenbar rechnen sie mit grösseren Protesten. Und offenbar rechnen sie mit dem Schuldspruch für Alexei Nawalny.
Der Oppositionelle wartet morgens im Moskauer Stadtgericht auf den Beginn seines Prozesses. Das grosse Gebäude ist weiträumig abgesperrt. Einsatzkräfte patrouillieren durch die Nachbarschaft, stehen sogar auf Parkplätzen und in Hinterhöfen Wache. Wer ins Gerichtsgebäude hineinwill, muss mehrere Kontrollpunkte passieren, alle schwer bewacht. Als würde dort ein Staatsoberhaupt empfangen oder ein Terrorist vor Gericht gestellt.
Nawalnys imposanter Auftritt
Dabei soll dieses Gericht lediglich entscheiden, ob der Oppositionelle Alexei Nawalny gegen seine Bewährungsauflagen verstossen hat. Es geht um die Strafe für einen alten, umstrittenen Betrugsfall von 2014. Tatsächlich aber geht es bei diesem Prozess um viel mehr – und genau das möchte Nawalny an diesem Tag deutlich machen. Er weiss am Morgen noch nicht, dass er abends für zwei Jahre und acht Monate ins Straflager geschickt wird. Aber vermutlich ahnt auch er es bereits.
Die Verhandlung verfolgt Nawalny aus dem Glaskasten für Angeklagte heraus, der in dem grossen Saal mit hohen Decken und dunkler Holzvertäfelung erst recht an einen Käfig erinnert. Über der Richterin hängt ein doppelköpfiger Adler, an den Wänden Philosophenporträts. Nawalny trägt einen blauen Kapuzenpulli und hat häufig die Arme vor der Brust verschränkt. Erst am Nachmittag erteilt Richterin Natalia Repnikowa ihm das Wort, Nawalny ergreift es – und wie: «Ich möchte ein paar Worte über den nicht grossen Elefanten in diesem Raum sagen», beginnt er, erinnert daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Urteil von 2014 für willkürlich erklärt hat. Er sei unschuldig, sagt Nawalny. «Der Fall, für den ich hier in diesem seltsamen Käfig bin, ist komplett erfunden.»
Grund für seine Festnahme seien der «Hass und die Angst eines Menschen im Bunker» – Nawalnys Lieblingsbeschreibung für Präsident Wladimir Putin. Er, Nawalny, habe den Präsidenten beleidigt, indem er den Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebt habe. «Wir haben gezeigt und bewiesen, dass Putin mit dem FSB einen versuchten Mord begangen hat», sagt der Oppositionelle weiter. Er legt noch nach: Putin sei kein grosser Geopolitiker, sondern werde als «Unterhosengiftmörder» in die Geschichte eingehen.
In der Zelle sah er Julia Nawalnaja im Fernsehen. Man hat sie Unruhestifterin genannt. «Ein schlechtes Mädchen. Bin stolz auf dich», sagt Nawalny im Saal.
Richterin Natalia Repnikowa unterbricht ihn zwischendurch, Nawalny solle die Politik raushalten. Aber Nawalny macht weiter, für ihn ist alles an diesem Fall politisch. Ein Mann werde ins Gefängnis geschickt, sagt Nawalny, um Millionen andere abzuschrecken. Das Urteil ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gefallen.
Die Verhandlung war erst am Vortag aus einem anderen Gericht ins Moskauer Stadtgericht verlegt, die Richterin ausgetauscht worden. Als die Zuschauer mit grosser Verspätung endlich in den Saal durften, begrüsste Nawalny sie mit einem Grinsen. Seine Frau Julia, unübersehbar in Rot, sprach er direkt an. Er habe sie in seiner Zelle im Fernsehen gesehen, sagte er über das Mikrofon. Dort habe man sie eine Unruhestifterin genannt. «Ein schlechtes Mädchen. Bin stolz auf dich», sagte Nawalny seiner Frau.
Julia Nawalnaja war bei den Protesten an den vergangenen beiden Wochenenden vorübergehend festgenommen worden. Zehntausende hatten auf der Strasse die Freilassung ihres Mannes gefordert. Lesen Sie dazu auch: Die Frau, die keine Angst kennt.
Im Gerichtssaal sassen ausser ihr rund fünfzig Journalisten und einige ausländische Diplomaten, darunter auch Schweizer Prozessbeobachter. Fotos und Videoaufnahmen hatte das Gericht verboten. Als die Richterin streng fragte, wer aus dem Saal heraus sende, rief Nawalny «Ich» dazwischen. Als die Richterin eine zweistündige Mittagspause verkündete, fragte er, ob man nicht etwas bei McDonald’s bestellen könne. Es gab aber auch genügend Momente, in denen er zynisch klang und bitter.
Die Strafvollzugsbehörde FSIN wirft ihm vor, gegen Bewährungsauflagen verstossen zu haben, während er in Deutschland war und in der Zeit davor. Mit Nawalnys Verteidiger stritt der FSIN-Vertreter Alexander Jermolenko darüber, ob Nawalny sich jeden zweiten Montag oder donnerstags bei der Strafvollzugsbehörde hätte melden müssen. Nawalnys Anwalt fragte den Beamten auch, warum dieser sich erst in letzter Minute an ihn gewandt habe, am 28. Dezember. Bereits am folgenden Tag setzte die Behörde Nawalny auf die Fahndungsliste.
Der verliert irgendwann die Geduld. Er will wissen, wie er die Auflagen hätte erfüllen sollen: «Ich lag im Koma!», ruft Nawalny. Er erinnert daran, dass selbst Präsident Wladimir Putin im Fernsehen von der Behandlung in Deutschland gesprochen habe. «Das wussten Sie auch nicht?», fragt er den Behördenvertreter. Der wirft ihm Fehlverhalten vor allem in der Zeit vor, als Nawalny bereits aus der Klinik entlassen worden war und ambulant behandelt wurde. Die Nachweise dafür reichen ihm nicht aus.
«Sei nicht traurig. Alles wird gut»
Während die Anwälte im Gerichtssaal streiten, geht die Politik draussen weiter. Das Aussenministerium beklagt eine «Einmischung in die inneren Angelegenheiten» Russlands. Putins Sprecher Dmitri Peskow warnt die anwesenden Diplomaten davor, Druck auf das Gericht auszuüben. Die sassen als Zuschauer auf dem Balkon. Lesen Sie dazu auch: Reaktionen nach Nawalny-Urteil: «Zynismus pur», «Perverse Entscheidung».
Putin selbst habe den «Verlauf dieses Prozesses» nicht verfolgt, sagt Peskow noch. In Moskau wurden bis zum Abend dennoch mehr als 350 Menschen festgenommen. Vorsorglich offenbar.
Kurz vor dem Urteilsspruch formt Alexei Nawalny hinter der Glasscheibe ein Herzchen mit beiden Händen, für seine Frau. Die Richterin verliest ihre Entscheidung. Der Verurteilte verabschiedet sich von Julia Nawalnaja: «Sei nicht traurig. Alles wird gut.»
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