Auf Mission im BundeshausZeugin des Grauens – Sepan Ajo kämpft für Anerkennung des Völkermords an Jesiden
Eine 25-jährige Jesidin will den Nationalrat dazu bringen, den islamistischen Terror in ihrer Heimat zum Völkermord zu erklären.
- Sepan Ajo überlebte die Gefangenschaft beim Islamischen Staat im Nordirak.
- Sie kämpft für die Anerkennung des Terrors gegen Jesiden als Völkermord.
- Der Nationalrat debattiert bald über die Anerkennung des Genozids.
Sepan Ajo sitzt mit aufrechter Haltung, ihre Stimme ist klar, ihre Worte eindringlich: «Es klingt merkwürdig, aber die Härte meiner Peiniger hat mich stark gemacht. Sie haben ein ganzes Leben in Krieg und Gewalt verbracht, aber nie aufgegeben. Und das wollte ich auch nicht.»
Die 25-jährige Jesidin ist eine der wenigen, die dem Terror des Islamischen Staat (IS) entkommen konnten – und darüber sprechen.
Offen erzählt sie von ihrer Zeit als Sklavin in den Häusern der obersten IS-Führung und von der Mission, die sie heute antreibt: Gerechtigkeit für die jesidische Gemeinschaft und die Anerkennung des Terrors gegen die Jesidinnen und Jesiden als Völkermord.
Der IS-Terror
Im August 2014 überfielen Kämpfer des IS den Nordirak. Die Region Sinjar an der Grenze zu Syrien ist die Heimat von über einer halben Million Jesiden, einer ethnisch-religiösen Minderheit. «Wir lebten ein ganz normales Leben», sagt Ajo. Sie wuchs in einer grossen Familie mit elf Geschwistern auf, spielte Fussball und ging zur Schule.
Doch an jenem Tag änderte sich alles. Ihr Dorf wurde beschossen, die Bewohner in eine Schule zusammengetrieben. Der IS tötete die Männer, darunter ihren Vater und einen Bruder, und verscharrte sie in einem Massengrab. «Die Frauen und Kinder wurden getrennt, als ob wir nichts wären.»
IS-Kämpfer verschleppten die 15-jährige Sepan zusammen und weitere Mädchen nach Raqqa in Syrien, der damaligen Hauptstadt des IS-Kalifats. Dort wurde sie dem IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani als Sklavin übergeben. Von da an bestand ihr Leben aus Hunger, Schlägen, Erniedrigung und Vergewaltigungen. Sie durfte nicht mehr ihren Namen tragen, sondern wurde Bakia genannt.
Später landete sie im Haushalt von Abu Bakr al-Baghdadi, dem selbst ernannten Kalifen des Islamischen Staats. «Dort diente ich als Haussklavin, musste kochen, putzen und mich um die Kinder kümmern.»
Doch sie wurde auch zur Zeugin. «Er hat Mädchen und Frauen vergewaltigt, fast täglich.» Sie hörte mit, wie Baghdadi und seine Leute neue Angriffe planten und über die Gründung von IS-Schläferzellen im Ausland diskutierten.
Ajo begann im Geheimen, ein Tagebuch über ihre Erlebnisse zu führen. Das wurde entdeckt. «Sie haben mich sieben Tage in einen Keller gesperrt, ohne Licht – nur etwas Wasser und wenig Fladenbrot.»
Flucht und ein neuer Anfang
2021 gelang Ajo die Flucht. «Ich sollte in den Libanon gebracht werden, um verkauft zu werden.» Das Auto, in dem sie transportiert wurde, traf auf eine Mine. Durch die Explosion wurden ihre Begleiter getötet, sie erlitt schwere Verletzungen. «Meine Beine tragen noch immer die Narben der Schrapnellsplitter», erzählt sie.
Nach sieben Jahren Folter und Isolation fand sie bei einer arabischen Familie im syrischen Daraa Zuflucht. Es gelang ihr, Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen. Diese war zusammen mit vier ihrer Kinder im Rahmen eines humanitären Programms von Deutschland aufgenommen worden. Dort erkrankte die Mutter aber lebensgefährlich.
«Ich wollte meine todkranke Mutter noch einmal sehen und umarmen, um meine Wunden zu heilen. Aber die Behörden haben mein Visum zu spät bewilligt», sagt Ajo. Zwei Wochen nach dem Tod ihrer Mutter durfte sie nach Deutschland reisen und bleiben. Dort besucht sie jetzt die Grundschule und lernt Deutsch, das sie neben ihrer Muttersprache Kurdisch und Arabisch schon leidlich gut spricht.
Die Mission im Bundeshaus
Sepan Ajo ist zusammen mit zwei jesidischen Menschenrechtsaktivisten, Delshad Ido und Farhad Ismail, in die Schweiz gekommen. Die drei wollen das Parlament überzeugen, den IS-Terror gegen die Jesiden zum Völkermord zu erklären. Am kommenden Dienstag wird der Nationalrat debattieren.
Die Aussenpolitische Kommission hat bereits ihre Unterstützung signalisiert. «Die Anerkennung ist kein Selbstzweck», sagt Ajo. «Es geht darum, den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen und ein klares Signal gegen Terrorismus und Völkerrechtsverletzungen zu senden.»
Doch es gibt auch Gegenargumente. Der Bundesrat stellt sich auf den Standpunkt, dass die Einstufung von Völkermord Sache internationaler Gerichte sei und nicht einzelner Parlamente. Ajo widerspricht: «Die Anerkennung durch nationale Parlamente ist kein Ersatz, sondern eine Ergänzung. Sie zeigt, dass die Weltgemeinschaft Verantwortung übernimmt.»
«Noch immer gibt es Schläferzellen»
Für Sepan Ajo ist die Anerkennung durch die Schweiz ein wichtiger Schritt, aber nicht der letzte. «Noch immer sind 2500 jesidische Frauen und Kinder vermisst. Noch immer gibt es Massengräber, die nicht geöffnet wurden. Und noch immer gibt es Schläferzellen des IS», mahnt sie.
Fehler gefunden?Jetzt melden.