Kontroverse in Serbien Nationalisten im Grössenwahn – Belgrad errichtet Riesendenkmal
Mitten in der Hauptstadt wird gerade das monumentalste Denkmal des Balkans errichtet – für den Fürsten Stefan Nemanja, der als Heiliger verehrt wird. Ein Lehrstück über den neuen Nationalismus.
Seit August hat Oleg Naschkarjow kaum einen freien Tag gehabt. In der serbischen Hauptstadt Belgrad hat der gelernte Atomraketeningenieur aus Moskau den Bau eines gut 80 Tonnen schweren Denkmals geleitet. Wenn alle Einzelteile aus 58 Tonnen Bronze über dem Metallkern zusammengeschweisst sind, die unterirdische Klimaanlage und die Lichttechnik funktionieren und der 50 Menschen fassende Besucherraum im Fuss des Denkmals fertig ist, wird der Mittelalterfürst Stefan Nemanja in den Himmel über Belgrad schauen – aus einer Höhe von 26 Metern.
«Es wird das grösste Denkmal auf dem Balkan», sagt Naschkarjow stolz. Noch im November soll das Monument fertig sein, bis Jahresende der umliegende, neu gestaltete Platz. Dann kann Serbiens Präsident Aleksandar Vucic das Denkmal noch vor Neujahr einweihen.
Erinnerung an das goldene Zeitalter
Baustelle und Denkmal liegen am Savski-Platz, direkt vor Belgrads Hauptbahnhof von 1884, einem in Gelb und Weiss leuchtenden architektonischen Meisterwerk der Baukunst im Stil des Akademismus. Als der Hauptbahnhof öffnete, war er ein Symbol für die Anbindung des erst seit 1878 vom Osmanischen Reich unabhängigen Fürstentums Serbien an Europa. Im Dachgiebel des Hauptportals thronten zwei Greife und das Wappen des neuen Königreichs Serbien und ab 1918 des Königreichs Jugoslawien, bevor sie im sozialistischen Jugoslawien weichen mussten. Im Februar 2020 kehrten die Greife bei einer Renovierung der Fassade zurück. Seit zwei Jahren ist der Bahnhof ausser Betrieb – der Hauptbahnhof wurde an einen etliche Kilometer ausserhalb des Stadtzentrums liegenden Ort verlegt. Der Savski-Platz wird mit 250 Bäumen bepflanzt und künftig vom Denkmal Stefan Nemanjas dominiert.
Der Fürst von Raszien (Raska) im Süden des heutigen Serbien nabelte sein Reich durch Krieg und Diplomatie 1185 vom Byzantinischen Reich ab. Nemanjas Söhne und deren Nachfolger bestimmten als Nemanjiden-Dynastie gut zwei Jahrhunderte lang die Geschicke eines serbischen Königreiches, bevor es sich Mitte des 15. Jahrhunderte dem Osmanischen Reich unterwerfen musste. Dynastiegründer Stefan Nemanja (ca. 1113 – 1199) war auch Literat, Förderer der Kirche und in seinen letzten Lebensjahren Mönch wie sein jüngerer Sohn Rastko, als Sava erster Erzbischof der neuen serbisch-orthodoxen Kirche. Stefan Nemanja wurde als Simeon der Myrrhe-Verströmende heiliggesprochen. Seine Ikonen hängen in vielen serbischen Kirchen, sein Grab im Kloster Studenica ist bis heute Wallfahrtsort.
«Da könnte man ja auch sagen, der Eiffelturm oder die Freiheitsstatue seien zu gross.»
Jedes Schulkind kennt die Geschichte der Nemanjiden; ihre Epoche gilt den Serben als Goldenes Zeitalter. «Mit diesem Denkmal erinnern wir an den Gründer der grössten serbischen Dynastie im Mittelalter», sagt Belgrads Vizebürgermeister Goran Vesic, Oberaufseher über die Baustelle. Doch das grösste ist auch eines der umstrittensten Denkmäler auf dem Balkan. «Ich bin nicht gegen ein Denkmal für Stefan Nemanja – aber ich bin gegen dieses überdimensionierte Monument, das nicht zum historischen Kontext dieser Gegend passt und an diesem Ort grotesk ist», sagt Dobrica Veselinovic von der Bürgergruppe «Wir geben Belgrad nicht auf». Das Denkmal verbreite eine nationalistische Version von Serbien, kritisiert er. Vizebürgermeister Vesic weist dies zurück. «Da könnte man ja auch sagen, der Eiffelturm oder die Freiheitsstatue seien zu gross. Dies ist ein grosser Platz, der ein grosses Denkmal braucht.»
Heftige Kritik an dem Projekt kommt auch von Experten, etwa vom Präsidenten der Belgrader Architekturakademie oder der Vorsitzenden der Denkmalschützervereinigung DKS. «Zur Zeit Jugoslawiens pflegte Belgrad exzellenten, modernen Urbanismus und öffentliche Architektur», sagt Milena Dragicevic Sesic, Professorin für Kulturpolitik an der Belgrader Kunst-Universität. «Selbst Tito liess sich keine riesigen Denkmäler errichten. Und die berühmte Skulptur, die anlässlich des ersten Treffens der Blockfreienbewegung in Belgrad 1961 aufgestellt wurde, ist ein schlichter Obelisk, nicht schwer und monumental.» 2018/19 würdigte das New Yorker Museum of Modern Art die jugoslawische Architektur mit einer viel beachteten Ausstellung. Die Qualität von Architektur und Denkmälern lag Sesic zufolge auch daran, dass «Entscheidungen nach echten internationalen Wettbewerben von Fachleuten getroffen wurden. Heute dagegen werden in Belgrad nach undurchsichtigen Entscheidungen an prominenten Plätzen singende Springbrunnen gebaut, gesichtslose Büro- und Geschäftszentren, die überall stehen könnten. Und Denkmäler, die sich durch Monumentalität und Kitsch auszeichnen.»
Der Regisseur Goran Markovic hält dies nur für folgerichtig. «Unter einem Regime wie dem unseren entscheidet der Diktator: Das ist schön», sagt er. Mit dem «Diktator» meint er Aleksandar Vucic, der das Sieben-Millionen-Einwohner-Land Serbien seit 2012 führt, Kritikern zufolge so populistisch wie autoritär. Im Dezember 2015 schlug Vucic, damals Ministerpräsident, ein Stefan-Nemanja-Denkmal und einen Museumskomplex «Serbisches Mittelalter» vor. Damals geplante Höhe für das Herrscherdenkmal: zehn Meter einschliesslich Fundament.
Mit derlei Ausmassen stand das geplante Denkmal freilich bescheiden dar. Beim grossen slawischen Bruder in Moskau, häufiges Reiseziel Vucics, weihte Präsident Wladimir Putin Anfang November 2016 neben dem Kreml ein gut 16 Meter hohes Denkmal des heiligen Wladimir ein, Gründervater der Kiewer Rus, eines Vorläuferreiches der Ukraine und Russlands. Es war Vucic höchstpersönlich, der für Ausschreibung und Auswahl des Stefan-Nemanja-Denkmals eine Jury einsetzte. Ihr Vorsitzender wurde kein unabhängiger Fachmann, sondern Nikola Selakovic, erst Justizminister Vucics, nach dessen Umzug in den Präsidentenpalast sein Kanzleichef und seit Ende Oktober Aussenminister Serbiens.
Im Mai 2018 verliess Serbiens seit jugoslawischen Zeiten wohl berühmtester Bildhauer Miodrag Zivkovic die Jury unter Protest. In einem offenen Brief kritisierte Zivkovic das «sehr niedrige Niveau» der Wettbewerbsbeiträge und politischen Druck durch Jurychef Selakovic, den angeblich von diesem durchgesetzten Sieger Alexander Rukawischnikow und die später ohne Zustimmung der Jury massiv geänderte Planung für das Nemanja-Monument. Der 70 Jahre alte Rukawischnikow ist ein in sowjetischer Tradition grossgewordener Moskauer Bildhauer, dessen Monumentalskupturen oft Herrscher oder Helden feiern. Seine Skulptur von Zar Alexander II. nannte die Moskauer Tageszeitung Kommersant «monumentale Propaganda». Vor dem Stadion des Fussballvereins Spartak Moskau schuf Rukawischnikow 2014 eine weit über 20 Meter hohe Statue des antiken Spartacus, Anführer einer Sklavenarmee gegen das Römische Reich.
Die Nemanja-Statue ist nicht Belgrads erstes Denkmal aus russischer Produktion. Im November 2014 weihte die serbische Staats- und Kirchenspitze ein Denkmal des russischen Zaren Nikolaus II. ein, Alliierter Serbiens im Ersten Weltkrieg. Moskau war in Belgrad auch an anderen Grossprojekten beteiligt: Die riesige orthodoxe Sava-Kathedrale wurde mit Mosaiken russischer Künstler geschmückt, bezahlt vom Kreml und dem Erdgaskonzern Gazprom. Der Preis des monumentalen Stefan-Nemanja-Denkmal für Serbien – ob es mit Geld bezahlen muss oder mit politischen Zugeständnissen an Russland – ist öffentlich unbekannt. «Wir haben die Belgrader Stadtverwaltung auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes gefragt, wer wem wie viel bezahlen muss», sagt Bürgerrechtler Veselinovic. «Die Antwort: Diese Information seien geheim.»
Auch Vizebürgermeister Vesic will den Preis nicht nennen. «Den Vertrag hat die Regierung unterschrieben.» Auch dieser ist geheim. Das Nemanja-Denkmal passt zur offiziellen Geschichtspolitik. Zu deren Helden gehört auch Gavrilo Princip, der 1914 im Auftrag des serbischen Armeegeheimdienstes den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand ermordete – was den Ersten Weltkrieg auslöste. 2015 bekam er ein paar Schritte vom künftigen Nemanja-Denkmal entfernt am Finanzministerium seine eigene Statue. Der damalige Präsident Tomislav Nikolic feierte Princip als «Helden» und «Symbol der Idee der Befreiung». Auch die Nemanjiden wurden schon 2018 in einer mehrteiligen Serie im Staatsfernsehen RTS gefeiert. Wo Serben keine Helden sind, sind sie Opfer. Die serbischen Gräueltaten in den Balkankriegen der Neunzigerjahre, ob in Kroatien, Bosnien oder bei Morden und Vertreibungen von Albanern in Kosovo, sind in Serbien bis heute tabu.
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