Gewaltspirale in Frankreich Naëls Tod lässt die Pariser Banlieues in Flammen aufgehen
Nach einem tödlichen Schuss auf einen 17-Jährigen wurde ein Beamter festgenommen. Politiker wie Jean-Luc Mélenchon und Prominente wie Kylian Mbappé diskutieren über Polizeigewalt.

Alle Seiten rufen nun zur Ruhe auf, der Bürgermeister von Nanterre, der Innenminister, aber es sieht so aus, als wäre das vergeblich. Paris bewegt sich mal wieder auf einen Aufstand zu, die Sorge geht um, dass erneut die Vorstädte brennen könnten, dass es zu grösseren Ausschreitungen kommt. Ein 17-Jähriger, der am Steuer eines Autos sass, wurde von einem Polizisten erschossen. Weil er sich den Anordnungen bei einer Verkehrskontrolle nicht fügen wollte. Ohne dass es sich um Notwehr handelte.
So unglaublich stellt sich der Fall dar, und so war es wohl auch. Der Tod von Naël M. am Dienstagvormittag ist für viele Menschen, die seit Jahren über den autoritären Staat und übermässige Polizeigewalt in Frankreich klagen, das Signal, abermals auf die Strasse zu ziehen.
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Die Proteste begannen am Dienstagabend mit einer Demonstration vor der Polizeiwache von Nanterre im Westen der Stadt. Dort, nicht weit entfernt von den Wolkenkratzern von La Défense, war der Junge erschossen worden. Aufgebrachte Menschen setzten laut Berichten französischer Medien Mülltonnen, Autos und eine Grundschule in Brand, beschossen Einsatzkräfte mit Feuerwerkskörpern. Schnell griffen die Unruhen auf angrenzende Orte über. Nach Angaben der Präfektur von Nanterre kam es zu 31 Verhaftungen, 24 Polizisten wurden verletzt.
Polizist wurde in Gewahrsam genommen
Noch nicht ganz klar ist, was sich genau abspielte am Dienstagmorgen. Eine Motorradstreife der Polizei hatte das mit drei Personen besetzte Auto gestoppt. Ein Video, das in sozialen Netzwerken verbreitet wurde, zeigt, wie einer der Beamten seine Waffe auf Höhe der Fahrertür in das stehende Auto richtete. Als der 17-Jährige am Steuer plötzlich losfährt, schiesst ihm der Beamte aus nächster Nähe in die Brust. Das Auto fährt noch einige Meter weiter und rammt schliesslich einen Pfosten. In dem Video ist der Satz zu hören: «Du bekommst eine Kugel in den Kopf», ohne dass er einer bestimmten Person zugeordnet werden kann.
Ein 38 Jahre alter Beamter wurde unter Totschlagsverdacht in Polizeigewahrsam genommen. Die beiden weiteren beteiligten Polizisten hatten offenbar zunächst gelogen über den Hergang des Ereignisses. Erst sagten sie, der Jugendliche habe gedroht, sie zu überfahren. Später – möglicherweise nach dem Auftauchen des Videos – hiess es, er habe ihren Anordnungen keine Folge geleistet und dann plötzlich Gas gegeben.
Die Familie des Jungen will den Todesschützen nun nicht nur wegen Mordes verklagen, sondern auch wegen Falschaussage. Im Fernsehen kam die Mutter des Getöteten zu Wort. Der Junge habe sie noch gebraucht, sagte sie. «Man hat mir mein Baby genommen.» Laut dem Anwalt der Familie lieferte Naël Pizza aus. Er sei «sehr beliebt im Viertel» gewesen, er habe keinen Eintrag im Strafregister.
Innenminister Gérald Darmanin, der als Law-and-Order-Mann gilt, versuchte gar nicht erst, die Tat in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Das Video, das den Schuss zeige, sei «extrem schockierend» und entspreche «offensichtlich nicht dem, was wir uns von der Polizei wünschen». Wenn sich die Bilder bestätigten, sei eine solche Reaktion «in keinem Moment gerechtfertigt».
Er und andere Politiker wiesen aber darauf hin, dass Widerstand gegen die Staatsgewalt schon in vielen Fällen zum Tod von Polizisten geführt habe. Dass Polizisten immer wieder Ziel von Gewalttaten seien. Mehr als 2000 Polizisten sollen in den Pariser Vorstädten nun mögliche weitere Proteste unterbinden.
Immer wieder kommen Menschen in Frankreich bei banalen Fahrzeugkontrollen ums Leben.
Der tödliche Vorfall löste in der Gesellschaft breite Empörung aus. Fussballstar Kylian Mbappé und der bekannte Schauspieler Omar Sy meldeten sich zu Wort. Angesichts der Videoaufnahmen wurde einmal mehr masslos überzogene Polizeigewalt angeprangert. Immer wieder kommen Menschen in Frankreich bei banalen Fahrzeugkontrollen ums Leben, wenn sie sich nicht an Polizeianweisungen halten.
Oft geht es dabei nicht um Schwerkriminelle, sondern wie auch im Fall von Nanterre um Menschen, die mit Bagatelldelikten aufgefallen sind. Übermässige Polizeigewalt wurde zuletzt auch bei den Protesten gegen die Rentenreform oder bei der Niederschlagung von Demonstrationen gegen ein Wasserbecken in Westfrankreich kritisiert.

In der politischen Debatte, die sofort losbrach, stehen sich die Lager wie üblich gegenüber. «Die Todesstrafe gibt es in Frankreich nicht mehr. Kein Polizist hat das Recht zu töten, es sei denn, es handelt sich um Notwehr», twitterte Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon. Die Polizei bringe die Autorität des Staates in Verruf und müsse von Grund auf reformiert werden. Andere Politiker aus dem linken Spektrum zeigten sich ebenfalls empört und betonten, dass Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte noch lange nicht die Tötung eines Menschen rechtfertige.
Der Präsident der konservativen Républicains, Éric Ciotti, sprach den Polizeikräften in Nanterre seine Unterstützung aus. «Es wird eine harte Nacht werden, Sie sind die Verteidiger unserer kollektiven Sicherheit. Dieses Chaos ist durch nichts zu rechtfertigen!»
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