Skurriles aus der MedizinNägelkauen kann gefährlich sein
Im ungünstigsten Fall hilft nur eine Operation. Auch zu grosse Bissen beim Essen führten – Jahre später – schon zu Problemen.
Seit fünf Tagen plagten die 49-jährige Frau Bauchschmerzen. Dumpf, sich allmählich verschlimmernd, zunächst diffus, dann aber immer stärker im rechten Unterbauch lokalisiert – so beschrieb sie diese Schmerzen, als sie sich auf einer Notfallstation in Florida meldete. Ihre Schilderung deutete auf eine Blinddarmentzündung hin.
Der Verdacht bestätigte sich: Ihre Appendix, wie der kleine Wurmfortsatz am Dickdarm heisst, war entzündet und vergrössert. Die 49-Jährige wurde operiert. Noch am gleichen Tag konnte sie das Spital wieder verlassen.
Wie üblich wurde der herausoperierte, in diesem Fall 6,5 Zentimeter lange Wurmfortsatz den Pathologen zur Begutachtung geschickt. Was sie fanden, überraschte sie gleich doppelt: Inmitten des Wurmfortsatzes steckten Teile eines menschlichen Finger- oder Zehennagels. Sie verstopften das Innere der Appendix.
War es ihr Nagel oder ein fremder?
Das war bei dieser Frau aber noch nicht alles. Denn dieses Nagelmaterial war eingebettet in eine Kolonie von Actinomyces-Bakterien. Diese Bakterien kommen sowohl im menschlichen Darm vor als auch in der Erde. Sie verursachen nur selten Infektionen; Blinddarmentzündungen gar nur in etwa 2 bis 6 von 10’000 Fällen.
Die Patientin war wahrscheinlich deshalb anfällig für diese Bakterien, weil sie gerade eine Chemotherapie gegen ihren Brustkrebs und die Lebermetastasen bekam. Sowohl diese Erkrankung als auch die Behandlung schwächten ihre Immunabwehr. Die bedauernswerte Frau war weltweit vermutlich der erste Mensch mit einer Actinomyces-Infektion am Wurmfortsatz, verursacht durch einen menschlichen Nagel. Ob sie an ihren eigenen Nägeln herumgekaut oder ob sie mit dem Essen versehentlich einen fremden menschlichen Nagel verschluckt hatte, blieb offen.
Schätzungsweise 1 von 20’000 Blinddarmentzündungen wird durch Fremdkörper verursacht, die sich im Wurmfortsatz verfangen, ihn verstopfen und zur Entzündung führen, berichteten US-Mediziner vor drei Jahren in den «Case Reports in Surgery». Je nachdem, wie der Wurmfortsatz beschaffen ist und in welche Richtung er zeigt, geraten verschluckte Fremdkörper mehr oder minder leicht hinein – aber nicht mehr heraus.
Schrauben, Schlüssel, Thermometer – in Blinddärmen fanden Ärzte schon Erstaunliches.
Im Fachblatt «Digestive Diseases» stellten Ärzte einmal eine Liste der Gegenstände zusammen, die Chirurgen im Verlauf von 100 Jahren schon in Wurmfortsätzen gefunden haben: Dornen, Samen, Münzen, Gallensteine, ein Würfel, Zahnkronen oder -implantate, Nadeln, Eierschalen, Schrot, Nägel und Metallschrauben, Glas, selbst Angelhaken sowie das Ende eines Thermometers. In jüngerer Zeit gesellte sich ein Zungenpiercing hinzu.
Manchmal sind die ungewöhnlichen Funde Ausdruck einer tieferliegenden Erkrankung: Ein inhaftierter, depressiver Mann zum Beispiel verleibte sich absichtlich zwei Rasierklingen ein, eine psychisch kranke Frau verschluckte einen Schlüssel, der in ihrer Appendix steckte.
Die meisten Objekte aber wurden versehentlich oder – von Kindern – aus Neugier verschluckt. Andere wanderten von der Gebärmutter hinüber zum Wurmfortsatz. So geschehen bei einer jungen Frau, die sich eine Verhütungsspirale einsetzen liess. Diese verschwand jedoch spurlos. Wiederentdeckt wurde sie erst bei einer späteren Schwangerschaft der Frau, als es zur Blinddarmentzündung kam.
Erst 15 Jahre später wieder gefunden
Im Fall eines 45-Jährigen in Italien, den das «World Journal of Gastrointestinal Surgery» beschrieb, verbarg sich der Gegenstand sogar über ein Jahrzehnt lang. Mit dem letzten Bissen eines traditionellen norditalienischen Gerichts – Safranreis mit Markknochen – hatte er versehentlich auch einen solchen Knochen verschluckt. Rund 15 Jahre später verspürte er leichte Schmerzen im rechten Unterbauch. Sie rührten von dem Markknochen her, der seit der denkwürdigen Mahlzeit im Wurmfortsatz steckte. Auch dieser Patient wurde erfolgreich operiert.
In einer früheren Version stand, dass die Verhütungsspirale «in den» Wurmfortsatz wanderte. Präziser ist «zum» Wurmfortsatz. Es gibt mehrere Fallberichte von Frauen, bei denen die Verhütungsspirale die Wand des Wurmfortsatzes durchbohrte und in diesen eindrang.
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