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Legendäre Besteigung am EverestPinkelpause auf 7000 Metern – dann kommt die Lawine

Vor 40 Jahren kletterten junge Australier auf einer Route zum Gipfel, an der später alle scheiterten. Doch die kühne Expedition entfremdete die Freunde.

Viel zu reden nach der Rückkehr: Lincoln Hall und Tim Macartney-Snape (re.).
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Tim Macartney-Snape will gerade seine Hose hochziehen und damit seine Pinkelpause auf 7000 Metern beenden. Da hört er ein dumpfes «Whuumpf» über sich. Der 28-Jährige befindet sich mitten in der 3000 Meter hohen Nordwand des Mount Everest. Er blickt hoch – und sieht eine riesige Lawine auf sich zurasen.

Macartney-Snape ist einer von fünf Australiern, die vor 40 Jahren am Mount Everest für eine historische Besteigung dieser ewig langen und bis dahin auf dieser Route unbestiegenen Nordwand sorgten. So viel sei schon verraten: Nur er und Teamkollege Greg Mortimer schafften diese superriskante Tortur ohne Flaschensauerstoff oder Sherpas. Bis heute scheiterte jeder Nachahmer am Versuch, diese Route zu wiederholen.

Darum ging diese Expedition in die Historie des Everest ein – als eine der grössten Leistungen am Prestigeberg. Sie hat Macartney-Snape zu einem Prominenten in der Heimat gemacht, Teamkollege Andrew Henderson an neun Fingern die vordersten Glieder gekostet und die fünf Freunde danach in Teilen entzweit.

Macartney-Snape springt zum Fixseil

Daraus macht Macartney-Snape, mittlerweile 68-jährig und ein eloquenter, nachdenklicher Gesprächspartner, kein Geheimnis. Uns nimmt er mit zu dieser epochalen Besteigung. Gehen wir also zurück in die Wand und die Lawine im September 1984.

Als dem ungesicherten Macartney-Snape nämlich klar wird, dass ihn demnächst eine Schneemasse überrollen wird, springt er zum Fixseil, von dem er sich fürs Urinieren ausgeklinkt hat – und hält sich mit aller Kraft daran fest. Er kann der Wucht der abgeschwächten Lawine widerstehen.

Ausnahme-Bergsteiger Macartney-Snape beim Selfie am Mount Everest.

«Unbeeindruckt wie immer» sei Macartney-Snape danach zu ihm aufgerückt, schreibt Lincoln Hall in «White Limbo», seinem Buch über diese legendäre Everest-Besteigung, zur damaligen Situation. Hall ist Teil des Teams und der Standard-Kletterpartner von Macartney-Snape, diesem von Hall als «Maschine» bezeichneten Schlaks mit «Ohren wie Prinz Charles» und «Beinen wie Twiggy», dem sehr, sehr dünnen früheren britischen Starmodel.

Zusammen stehen Macartney-Snape, Hall und ihre drei Expeditionskollegen ein paar Wochen davor am Fuss dieser riesigen Wand.

Die Nordwand des Mount Everest auf tibetischer Seite, wie sie das Team im Herbst 1984 vorfand.

«Bis heute spüre ich die Angst von damals», sagt Macartney-Snape, wenn er sich die Nordwand vor Augen führt. «Während der ganzen Expedition liess sie mich nicht mehr los.» Er dachte darum: «Das ist ziemlich dumm, was wir vorhaben.»

Eine äusserst exponierte, lawinengefährdete, riesige Wand wollen sie hoch, ohne Flaschensauerstoff, nur im ersten Teil am Fixseil gesichert. Und vor allem: ohne Erfahrung, wie sich das Fortbewegen unter solchen Bedingungen auf 8000 Metern anfühlt.

Obschon alle im Team exzellente Felskletterer sind und kurz zuvor eine neue Route in die Annapurna II (7937 m) legten: Als Australier sind sie Flachländer und die meisten Endzwanziger. Das heisst: jung, gipfelhungrig, aber «geradeso mit ausreichend Erfahrung für solche extremen Routen ausgestattet», wie Macartney-Snape im Rückblick sagt. Schon damals wissen sie jedoch, wie es sich anfühlt, dem Tod knapp zu entkommen.

36 Stunden ohne Wasser während Dunagiri-Besteigung

Sechs Jahre zuvor, also 1978, erkletterten Macartney-Snape und Hall den 7066 Meter hohen Dunagiri in Indien. 49 Stunden brauchten sie für den finalen Push auf den Gipfel und zurück. Während 36 Stunden fehlte ihnen jegliches Wasser zum Trinken. Hall froren dabei mehrere Zehen ab. 1983 galten sie an der Annapurna III bereits als vermisst, nachdem sie wegen schlechten Wetters fünf Tage auf 7100 Metern in einer Schneehöhle hatten ausharren müssen.

Und nun also dieses Husarenstück die Nordwand des Everest hinauf – ein dem Zufall geschuldetes Abenteuer. 1981 fragen sie auf einer anderen Expedition ihren chinesischen Verbindungsmann, was denn so an Genehmigungen vorliege. Der antwortet: Gerade sei ein Permit für 1984 am Everest frei geworden. Macartney-Snape und Kollegen kratzen die Anzahlung von 2000 Dollar zusammen – und stehen nun vor dieser riesigen Wand, legen ihre Route fest. Sie einigen sich auf diesen Weg:

Auf 8150 Metern soll Lager 4 zu stehen kommen. Geoff Bartram aber muss wegen eines sich anbahnenden Hirnödems schon davor umkehren. Hall dreht kurz nach Lager 4 um, aus Zeitgründen und Angst, sich Glieder abzufrieren. Bleiben Macartney-Snape, Mortimer und Henderson.

Macartney-Snape hat selbst am Gipfeltag noch ein Aufnahmegerät dabei, weil ein australischer TV-Sender eine Dokumentation darüber dreht. Dieser bezahlte die Expedition und rettete sie somit im letzten Moment mit seinem finanziellen Support.

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Das Filmteam rettet die Expedition auch aus einem weiteren Grund. Macartney-Snape und seine Kollegen deponieren einen grossen Teil des Equipments am Fuss der Nordwand und stellen Tage später fest, dass eine Lawine ihn verschüttet hat.

Alles verzweifelte Schaufeln, «das wohl höchste Loch der Welt», wie Macartney-Snape rückblickend halbironisch meinte, bringt das Equipment nicht zum Vorschein. «Zu diesem dummen Fehler von uns kam hinzu, dass wir nicht realisierten: Der Gletscher bewegte sich ja, langsam zwar, aber er bewegte sich.»

Deshalb buddelt das Team am falschen Ort. Das Equipment bleibt unauffindbar. Die Bergsteiger müssen sich darum gar die Schuhe des Filmteams für das anstehende Abenteuer borgen. Allerdings lebt 1,87-Meter-Mann Macartney-Snape auf grossem Fuss, seine Schuhnummer 47 kann ihm keiner bieten.

Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen ledernen Skischuh umzurüsten, einen Hybriden aus Telemark- und Langlaufschuh. Dafür nimmt er den Innenschuh heraus und legt ein wärmendes Futter rein. So sind zwar die Füsse wärmer, dafür rutscht er in der Nordwand aber immer wieder aus dem Fersenbereich heraus.

Immer hoch in der Wand: Das Team im sogenannten Grossen Couloir.

Trotzdem arbeiten sich Macartney-Snape und Mortimer am Abend des 2. Oktober 1984 auf den Gipfel hoch. Es beginnt bereits einzudunkeln, als sie die Spitze erreichen. 50 Höhenmeter unter ihnen spielt sich ein Drama ab.

Henderson geht zuvor eines seiner Steigeisen kaputt. Beim Versuch, es zu flicken, entledigt er sich der warmen Handschuhe – und zieht sich dabei gravierende Erfrierungen an den Fingern zu. Es kommt noch schlimmer: Weil es eindunkelt, will sich Henderson von seiner korrigierten Sonnenbrille befreien. Bloss ist er mit seinen erfrorenen Fingern unfähig dazu.

Und selbst wenn er es schaffen würde: Seine korrigierte normale Brille hat er im letzten Lager vor dem Gipfelsturm gelassen. «Bald würde es dunkel werden, und ich stand wie ein Idiot 50 Höhenmeter unter dem Gipfel des höchsten Berges der Welt, blind mit der korrigierten Sonnenbrille, blind ohne», sagte Henderson über diesen Schlüsselmoment in einem Fachmagazin.

Nukleare Gedanken auf dem Gipfel

Macartney-Snape sagt zu jener Schlüsselszene 40 Jahre später trocken: «Andy beging einen entscheidenden Fehler und büsste dafür.» Er wiederum wartet kurz vor dem Erreichen des Gipfels auf Mortimer.

Oben angekommen, holt er seinen Rekorder heraus und spricht neben Dankesworten auch aussergewöhnliche Sätze. Er redet über den drohenden nuklearen Krieg, Abrüstung und bittet darum, sich mit der Sonne als neuer Energiequelle zu befassen.

Am Rand des Universums

Macartney-Snape lächelt, wenn er sich an diese Momente erinnert. Sein Kopf senkt sich seitlich, als er sagt, sein Leben sei nun einmal wie das so vieler seiner Generation vom Kalten Krieg geprägt gewesen. Was er auch beschreibt: wie allein er sich auf dem Gipfel fühlte, «wie am Rand des Universums und so weit, weit weg von daheim».

Dieses Foto knipst er unter anderen noch. Seine Füsse sind darauf zu sehen, Kollege Mortimer, der eine tibetische Gebetsfahne hisst und in dessen Rücken die Welt erdunkelt.

Greg Mortimer auf dem Gipfel, aufgenommen von Macartney-Snape.

Rund 20 Minuten verbringen sie auf dem Gipfel. Mortimer begreift da, dass er erste Anzeichen eines Gehirnödems entwickelt. Schleunigst müssen sie im Dunkeln absteigen, auch mit dem handicapierten Henderson, der notgedrungen auf sie wartet. Eine einzige Stirnlampe, diejenige von Macartney-Snape, spendet ihnen etwas Licht und hilft fürs Ankommen in Lager 4. Dort hat Lincoln Hall bereits Wasser gekocht und versucht sie, 16 Stunden nachdem sie ebendieses Lager verlassen haben, zum Essen zu überreden.

Der Doppelgänger im Rücken

Während des Abstiegs fühlt sich Macartney-Snape stets von einer Person begleitet. «Sie geht direkt hinter mir und ist so real, dass ich ihr immer wieder meine Trinkflasche reiche.» Sein Hirn führt in dieser dünnen Luft ein Eigenleben. Oder wie es Macartney-Snape sagt: «Dein bewusstes Denken stoppt, was sich auch darin zeigt, dass du kaum mehr klar denken kannst.»

Der Doppelgänger im Rücken aber habe ihn beim Abstieg auch angetrieben, ihn gemahnt, wenn er vor Müdigkeit und Kälte habe stoppen wollen, beschreibt Macartney-Snape. Zumal er plötzlich darüber zu sinnieren begann, wie er am Strand liege. Macartney-Snape aber muss alle Kraft in den Augenblick lenken, um in der Dunkelheit nicht zu stolpern und die 3000-Meter-Wand hinunterzufallen.

Lincoln Hall und Greg Mortimer in Lager 4 nach dem Gipfeltag.

Die Nacht verbringt das Quartett in Lager 4 auf 8150 Metern. Während Macartney-Snape danach bis zum Lager 1 absteigt, schleppt sich der höhenkranke Mortimer mithilfe von Hall langsam den Berg runter. Er stürzt und kann den tödlichen Fall im letzten Moment mit seinem Pickel abbremsen. Henderson wiederum muss seine Finger gefroren halten, weil sie ansonsten beim Auftauen in dieser Höhe weiteren Schaden nehmen würden. Er schafft es wie alle anderen ins Basislager, verliert aber neun seiner zehn vorderen Glieder.

Daheim werden vor allem Macartney-Snape und Mortimer zu nationalen Helden. Doch zwischen den Freunden bleibt eine Rivalität zurück, die sie entfremdet, auch weil Mortimer glaubt, im Schatten von Macartney-Snape zu stehen, den das Abenteuer kaum zeichnet.

Das kühne zweite Everest-Projekt

Denn was tut dieser kühne Macartney-Snape? Er bekommt zu hören, dass er den Everest ja gar nicht in Gänze bestiegen habe, sondern bloss vom Basislager auf rund 5000 Metern aus. Also marschiert er sechs Jahre später in Indien auf Meereshöhe los und dann allein und ohne Flaschensauerstoff erneut auf den Everest. Damit hat er jeden dieser 8849 Meter tatsächlich erklommen.

Dann lässt er ab vom Höhenbergsteigen, weil ihm der Antrieb fehlt. Er hat zudem zu viele Kollegen sterben sehen – und ihm klar wird: Er braucht solche Besteigungen nicht mehr, um sich zu bestätigen.

Tim Macartney-Snape im Gespräch mit dem Schweizer Journalisten.

«Das alte Ich wäre stolz, dass es bislang nur uns gelungen ist, diese Nordwand-Route des Everest zu besteigen. Das neue Ich aber wünscht, dass auch andere diese Erfahrung erleben dürfen», sagt er. Und doch ist das Besteigen von Bergen durchaus Teil seines Lebens geblieben. Immer wieder redet er auch vor Schülerinnen und Schülern von seinen Abenteuern, versucht sie für ein Leben in und mit der Natur zu begeistern und durchaus auf die Gefahren dieser Welt hinzuweisen.

Meditieren auf 8700 Metern

Denn vom Quintett kehrte auch Lincoln Hall zurück auf den Everest. Doch als er im Mai 2006 vom Gipfel wegmarschiert, bringt ihn ein Gehirnödem zum Stillstand. Seine Helfer versuchen verzweifelt, ihn zu retten, ehe sie Hall auf 8700 Metern aufgeben. Seine Frau erhält den Anruf, ihr Mann sei im Sterben.

Hall aber überlebt die Nacht auf mirakulöse Weise, obschon er im Wahn glaubt, viel zu warm zu haben, und sich Teilen seiner Kleidung entledigt. Später beschreibt der Buddhist, er habe sich vorgestellt, auf grünem Boden in Polen (wo er noch nie war) zu meditieren. So finden ihn am Folgetag mehrere Gipfelaspiranten, brechen ihren Aufstieg ab und retten ihn. Sechs Jahre darauf stirbt Lincoln Hall an Krebs.

Im Jetzt sinniert Tim Macartney-Snape noch einmal über diese monumentale Everest-Expedition von 1984. «Es ist wirklich schwierig, einem Aussenstehenden zu erklären, was wir fünf damals erlebten», sagt er.

«Was ich sagen kann: Die Angst, die ich damals jeden Tag am Everest spürte: Ich fühle sie, als wäre es gestern gewesen. Und doch haben wir diese Angst gezähmt, weil wir uns den Auf- und Abstieg proportionierten, nie ans grosse Bild dachten. Wir haben einfach immer einen Fuss vor den anderen gesetzt, immer wieder und wieder, bis es irgendwann vorbei war.»

Korrektur: Wir haben das Zitat von Tim Macartney-Snape, in dem er über sein altes Ich redet, präzisiert: Er redet da von der Route in der Nordwand, die einzig er und Kollege Mortimer je geschafft haben (die Wand wurde auf anderen Routen von weiteren Bergsteigern durchstiegen).