Neues Lehrmittel Mit uns reden – statt über uns: Ein Buch lässt Jenische, Sinti und Roma erzählen
Derzeit wird oft über Minderheiten gesprochen, aber selten mit ihnen. Ein Buch rückt nun Kinder, Männer und Frauen in den Fokus. Die Berichte über ihr Leben in der Schweiz sind eindrücklich.
Dieser Text erschien erstmals am 9. März 2023.
Amela war nur unter einer Bedingung bereit, aus ihrem Leben zu erzählen: kein Bild. Ein Porträt ohne Bild? Das geht eigentlich nicht. Sie schlug eine Alternative vor: Ein schwarzes Küken umgeben von lauter gelben.
Amela wurde 1988 in einer kleinen Stadt in Bosnien geboren und lebt seit ihrem 9. Lebensalter in der Schweiz.
Sie ist eine Romni, also eine Angehörige der Volksgruppe der Roma und eine von neun Personen, die in dem kürzlich im Zürcher Münster-Verlag erschienenen Buch aus ihrem Leben erzählen. Es ist den Jenischen, Sinti und Roma gewidmet – zu wenig bekannten Minderheiten in der Schweiz, wie es im Untertitel heisst.
Das Buch ist die Begleitpublikation eines speziellen Lehrmittels mit Schulaufgaben. Das Lehrmittel stellt die Stiftung Erziehung und Toleranz (SET) kostenlos zur Verfügung. Erarbeitet wurden Buch und Lehrmittel von der Arbeitsgruppe Jenische-Sinti-Roma zusammen mit der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Hühnerhautmomente
Speziell daran ist einiges, zum Beispiel, dass es darin Hühnerhautmomente gibt. Dann etwa, wenn Amela sagt: «Ich will mich davor schützen, wieder dazuzugehören.» Oder wenn ein zehnjähriges Mädchen, das «im Dorf viele Freundinnen hat», erklärt: «Ich erzähle meinen Freundinnen nicht von den Sinti. Ich sage halt einfach, dass ich Christin bin.» Sie lebt mit ihrer Familie am Rande eines Dorfs im Kanton Solothurn auf einem eigenen Standplatz. Von den Sinti erzählt sie nicht, weil sie sich «ein bisschen schämt».
Initiant des Projekts ist der Zürcher Journalist und Buchautor Willi Wottreng, langjähriger Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz. In der Arbeitsgruppe sind Roma, Jenische und Sinti vertreten. Denn das Motto lautet: Nichts über uns ohne uns.
Auch das ist ziemlich neu. Lange Zeit war es üblich, über Minderheiten zu schreiben, indem man Bücher und schriftliche Quellen zurate zog, statt mit ihnen zu sprechen. In Publikationen ist das anders. Hier erzählen die Angehörigen dieser Minderheiten selbst.
Sie erzählen von der Angst, wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit ausgegrenzt zu werden. Von der tatsächlichen Erfahrung, deswegen gemobbt worden zu sein. Aber auch vom Stolz, zu dieser Minderheit zu gehören. So sagen die Roma-Zwillinge Hasan und Hysen: «Wir sind stolz auf unsere Nation. Roma gibt es in Europa schon seit über tausend Jahren. Und es ist schon erstaunlich, dass ihre Sprache, die nicht geschrieben ist, so lange überlebte. Dafür braucht es einen grossen Zusammenhalt.»
«Auf dem Friedhof bekamen die Jenischen einen besonders schlechten Platz zugewiesen.»
Das Lehrmittel passt inhaltlich gut in diese Zeit, in der der Umgang mit Minderheiten politisch und am Stammtisch heiss diskutiert wird. In dem Buch geschieht dies wohltuend unpolemisch und sehr informativ. So sagt Tosca Kappeler, eine Sintezza: «Die Sinti sind die Dunkleren, die Jenischen mehr die Hellhäutigen. Ich bin mit einem Jenischen verheiratet. Das geht wunderbar. Wenn man sich liebt, akzeptiert man sich.»
Eva Moser, die in Basel geboren wurde und im Tessin aufgewachsen ist, erzählt von ihrer Sprache, in der Igel «Stacherlig» heisst. Und davon, dass früher verstorbene Jenische auf den Friedhof von Morissen GR, wo ihre Familie herkommt, einen besonders schlechten Platz zugewiesen bekamen – hinter der Kirche, nicht wie die anderen vor der Kirche.
«So war das früher.» Und heute?
Sie erzählt von ihrem Vater, den die Behörden von der Familie weg in ein Heim gesteckt haben, weil er von einem Fenstersims ein Stück Maiskuchen genommen hatte. «Man glaubte, dass wir Jenischen das Stehlen im Blut haben; dabei hatte er nur Hunger. So war das früher.»
Der Wunsch, in der Schule endlich einmal vorzukommen, damit die Diskriminierung von Jenischen, Sinti und Roma eben bald «früher» war, steht am Anfang dieses Projekts. Damit Kinder wie der Sohn von Tosca Kappeler nicht mehr krank werden müssen, weil die Schulbehörde darauf besteht, dass sie den Unterricht besuchen, statt wie zuvor mit den Eltern auf die Walz, auf Geschäftsreise zu gehen.
Der gut gesinnte Doktor verordnete damals: ab sofort kein Schulbesuch mehr. Dafür Homeoffice. Wie der jenische Fünftklässler Calvin erzählt, ist das alles andere als Schlendrian: «Wenn wir wieder unterwegs sind, bekommt meine Mutter Hausaufgaben für mich. Sie macht das mit mir und ist sehr streng. Manchmal ist es fast strenger als in der Schule.»
Im zweiten Teil des Buches folgen Informationen über die drei Bevölkerungsgruppen. Dabei wird deutlich, wie plakativ die Wahrnehmung der Jenischen, Sinti und Roma in der Mehrheitsbevölkerung ist. Selbst der Begriff Minderheiten ist im Prinzip ein dehnbarer Begriff. In der Schweiz leben 30’000 bis 40’000 Jenische, in Europa schätzungsweise eine halbe Million.
Zu den Sinti zählen nur wenige Tausend Menschen. Viele von ihnen leben seit Generationen in der Schweiz. Jenische und Sinti sind seit 2016 als nationale Minderheit unter ihrem Namen anerkannt. Das heisst, sie haben ein Recht auf eine eigene Kultur und auf ihre eigene Lebensweise.
Konkret bedeutet das etwa, dass Kantone und Gemeinden angehalten sind, den reisenden Familien Halteplätze zur Verfügung zu stellen – für die sie Miete bezahlen. Das funktioniert mässig gut. So gibt es heute in der Schweiz zwei Dutzend funktionsfähige Durchgangsplätze für einen so genannten Kurzhalt von wenigen Wochen, gebraucht würden rund fünfzig mehr.
Die Roma sind Europas grösste selbstständige ethnische Minderheit. Je nach Schätzungen leben 8 bis 12 Millionen Roma in Europa. In Deutschland und anderen europäischen Ländern sind sie eine anerkannte Minderheit, nicht aber in der Schweiz. Zwar haben 2015 Roma-Vertreterinnen und -Vertreter ein Gesuch um Anerkennung gestellt. Dieses ist aber bis heute hängig.
Thematisiert werden auch die Verfolgungen von Jenischen, Sinti und Roma. Etwa 500’000 fielen dem Holocaust zum Opfer. In der Schweiz wurden von 1926 bis 1972 bei der Aktion «Kinder der Landstrasse» rund 600 jenische Kinder und Kinder aus Sinti-Familien ihren Eltern weggenommen. Die Begründung: Sie würden nicht in ordentlichen Verhältnissen aufwachsen. Man übergab sie Pflegefamilien, versorgte sie in Kinderheimen, psychiatrischen Kliniken oder Strafanstalten.
Laut Willi Wottreng war das Schwierigste an diesem Lehrmittelprojekt, an dem die Arbeitsgruppe fünf Jahre lang wirkte, Angehörige der Sinti, Roma und Jenischen dazu zu bewegen, öffentlich ihre Geschichte zu erzählen. Am zweitschwierigsten war es, einen Verlag für das Projekt zu gewinnen.
Das Lehrmittel ist konzipiert für die Mittelstufe ab dem 5. Schuljahr. Das Buch liest sich auch mit Gewinn, wenn man nicht mehr in die Schule geht.
Im Vorwort spricht übrigens doch noch ein Mitglied der Mehrheitsbevölkerung: Bundesrat Alain Berset. Er schreibt: «Der Schweiz geht es dann gut, wenn wir miteinander statt übereinander reden.» Die Zwillinge Hasan und Hysen sehen das ähnlich. Bei ihnen klingt das so: «Wer gut zu uns ist, zu dem sind wir gut. Und wer uns gern hat, den haben wir gern.»
Und der Jugendliche Sinto Jakub, der sich früher raufte, wenn er rassistisch beschimpft wurde, sagt: «Heute würde ich normal mit allen reden und ihnen die Sache erklären. Ich wünsche, dass die Leute zuhören und merken, wer wir sind. Dass wir genauso hart arbeiten wie andere, um zu leben.»
Jenische, Sinti, Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz, Münster-Verlag, 29 Fr. Open-Source-Zugang zum Lehrmittel: www.set.ch/jenische-sinti-roma
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