Vorwurf des FehlverhaltensMissbrauchsgutachten belastet Papst Benedikt schwer
Ein deutsches Gutachten lastet dem emeritierten Papst Benedikt XVI. in mehreren Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch an.
Das neue Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising hat den emeritierten Papst Benedikt XVI. und den amtierenden Erzbischof Reinhard Marx schwer belastet. Benedikt habe als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen, teilten die Gutachter am Donnerstag in München mit. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demnach seine Verantwortung «strikt», die Gutachter halten dies aber nicht für glaubwürdig, wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte.
In zwei der Fälle, bei denen die Gutachter ein Fehlverhalten des damaligen Münchner Erzbischofs sehen, sei es um Kleriker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staatlichen Gerichten attestierte Missbrauchstaten vorzuwerfen seien. Beide Priester seien in der Seelsorge tätig geblieben, kirchenrechtlich sei nichts unternommen worden. Ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger «nicht erkennbar» gewesen.
Die Gutachter sind mittlerweile auch überzeugt, dass Ratzinger Kenntnis von der Vorgeschichte des Priesters Peter H. hatte, der 1980 aus dem Bistum Essen nach München kam. H. war als Pädophiler verurteilt und beging später im Erzbistum München weitere Missbrauchstaten. Allein dieser Fall macht 370 Seiten des insgesamt mehr als 1700 Seiten starken Gutachtens aus.
Ratzinger habe in einer Stellungnahme bestritten, bei der Ordinariatssitzung im Januar 1980, in der die Einsetzung H.s beschlossen wurde, dabei gewesen zu sein. «Wir halten die Aussage des Papsts Benedikt, er sei in dieser Sitzung nicht anwesend gewesen, für wenig glaubwürdig», sagte Rechtsanwalt Ulrich Wastl. Dabei verwies er auf das Protokoll der Sitzung. Ratzinger sei anders als in solchen Fällen nicht als abwesend geführt worden. Ausserdem fänden sich in dem Protokoll Aussagen des damaligen Kardinals zu anderen Themen – er sprach demnach in der Sitzung auch selbst.
Rechtsanwalt Pusch sagte, Ratzinger habe bei der Erstellung des Gutachtens zunächst eine «anfängliche Abwehrhaltung» gezeigt. Diese habe er aber später aufgegeben und ausführlich schriftlich Stellung genommen.
Auch Ratzingers Nachfolger als Münchner Erzbischof, Kardinal Friedrich Wetter, wirft das Gutachten, das den Zeitraum zwischen 1945 und 2019 untersucht hat, Fehlverhalten vor: in 21 Fällen. Wetter habe die Fälle zwar nicht bestritten, ein Fehlverhalten seinerseits aber schon, sagte Pusch. Sein Kollege, der Anwalt Ulrich Wastl, sprach von einer «Bilanz des Schreckens».
Vatikan will Gutachten einsehen
Der Pressesprecher des Vatikans, Matteo Bruni, kündigte an, der Kirchenstaat werde das zuvor dem Vatikan noch nicht bekannte Gutachten nun genau studieren. Der Heilige Stuhl bekräftige «sein Gefühl der Scham und Reue für den Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche». Gleichzeitig wolle die katholische Kirche auf dem eingeschlagenen Weg bleiben, die Kinder zu schützen.
Marx warfen die Gutachter Untätigkeit vor. Es sei ungeachtet einer Vielzahl von Meldungen nur in «verhältnismässig geringer Zahl» festzustellen, dass sich der Kardinal überhaupt unmittelbar mit Missbrauchsfällen befasst habe, sagte Pusch. Ausserdem sei Marx in zwei Verdachtsfällen ein konkretes fehlerhaftes Verhalten vorzuwerfen.
Die Gutachter hatten Fälle sexuellen Missbrauch im Erzbistum seit der Nachkriegszeit untersucht. Pusch sagte, Marx habe sich auf eine «moralische Verantwortung» zurückgezogen und die direkte Verantwortung im Generalvikariat gesehen.
Im Fall eines für die Institution, der er vorstehe, zentralen Themas «greift es unserer Meinung zu kurz, auf die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit ihm unterstellter Funktionsträger zu verweisen», sagte Pusch. Es sei fraglich, was, wenn nicht sexueller Missbrauch, Chefsache sei. Erst ab dem Jahr 2018 habe es bei Marx eine geänderte Haltung gegeben.
Marx selbst blieb der Präsentation des Gutachtens fern. Die Gutachter kritisierten dies öffentlich, sie hätten den Kardinal eigens eingeladen. Am Nachmittag will Marx eine Stellungnahme abgeben. Inhaltlich will er sich aber erst in einer Woche äussern.
Fast 500 Opfer
Insgesamt ergaben sich laut dem Gutachten für das Münchner Erzbistum bei 235 von 261 untersuchten Mitarbeitern der Kirche Hinweise auf sexuell missbräuchliche Verhaltensweisen. Davon waren 173 Priester und 9 Diakone. Die Studie listet mindestens 497 Opfer auf. Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche. 60 Prozent der männlichen Opfer waren zwischen acht und 14 Jahre alt. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich grösseren Dunkelziffer auszugehen.
Das Gutachten kommt auch zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach «einschlägiger Verurteilung», wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern «gebotene Massnahmen mit Sanktionscharakter» unterblieben.
Insgesamt stellt das neue Gutachten der katholischen Diözese ein schlechtes Zeugnis aus. Auch in jüngster Zeit habe kein «Paradigmenwechsel» mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden, sagte Pusch. «Bis in die jüngste Vergangenheit und teils auch heute noch begegnen Geschädigte Hürden.»
Der 1927 geborene Ratzinger war von 1977 an fünf Jahre lang Erzbischof von München und Freising. 1982 machte ihn Papst Johannes Paul II. zum Chef der mächtigen Glaubenskongregation, der Nachfolgerin der Römischen Inquisition. Nach dem Tod Johannes Pauls 2005 wählte ihn das Konklave zum Pontifex. Im Februar 2013 trat er überraschend zurück. Er lebt seither zurückgezogen im Vatikan.
SDA/AFP/sep/aru
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