Trend zum KleinenWarum ist plötzlich alles mikro?
Ein neuer Begriff macht die Runde: Mikrofeminismus. Von Microweddings bis Microdosing spiegelt sich in solchen Phänomenen auch der Wunsch nach einem simplen Leben.
- Mikrofeminismus beschreibt kleine Gesten weiblicher Selbstermächtigung im Alltag.
- Der Begriff reiht sich ein in eine Sammlung weiterer Phänomene, die auf «Mikro» anspielen, etwa Mikroabenteuer oder Microliving.
- Mikrotrends spiegeln oft den Wunsch nach Klarheit in einer komplexen Welt wider. Sie können aber auch unterschiedlich interpretiert werden.
Seit kurzem macht ein neuer Begriff im Netz die Runde: Mikrofeminismus. Frauen berichten unter diesem Schlagwort von ihren kleinen Gesten weiblicher Selbstermächtigung. Zum Beispiel: Explizit von «Männer-Fussball» zu sprechen (anstatt vorauszusetzen, dass Fussball selbstredend männlich ist), als Frau den Männern die Tür aufhalten oder bei Berufsbezeichnungen konsequent die weibliche Form nennen. Diese Handlungen sollen, so die Hoffnung, die Gleichbehandlung der Geschlechter subtil vorantreiben. Auch abgesehen vom Gleichberechtigungsaspekt ist diese Bewegung sehr zeitgeistig.
Denn Mikro ist das Wort der Stunde. Wer liiert ist und im Büro einen harmlosen kleinen Flirt beginnt, macht sich des Microcheating schuldig, und wer sich mit Drogen ein wenig stimulieren, aber trotzdem einsatzfähig bleiben möchte, versuchts mit Microdosing. Kränkende Bemerkungen von Mitmenschen werden rasch zum Mikrotrauma, und das Microdate – eine kleine liebevolle Geste im Alltag – ersetzt das romantische Tête-à-tête.
Exzess und Überfluss war gestern
Aus der Zeit der Corona-Pandemie stammen weitere Beispiele: Da wurden plötzlich Mikroabenteuer vor der eigenen Haustür zum Ding, und die «New York Times» rief intime Hochzeiten im kleinen Kreise – na klar: Microweddings – zum «Big Hit» im 2020 aus, und das lag nicht nur an den Zahlenbeschränkungen für persönliche Zusammenkünfte: Im Kleinen und Privaten liegt das Glück, denn da ist die Welt überschaubar. Wenig überraschend also, dass auch Microliving als Sehnsucht vieler Menschen gilt, also das freiwillige Wohnen in beengten Verhältnissen, sei es in Kleinstapartments oder Tiny Houses.
Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Abgesehen davon, dass Exzess und Überfluss etwas Gestriges anhaftet – die heutige Generation lebt so vernünftig und gesundheitsbewusst wie keine vor ihr: Die Reduktion aufs Wesentliche verspricht auch Befreiung von Ballast. Etwa beim Wohnen: Wer freiwillig auf 35 Quadratmetern lebt, hat sich vom zehnten Paar Sneakers und der Heissluftfritteuse getrennt und vielleicht auch von der unglücklichen Beziehung, kurz: hat aufgeräumt. Man darf etliche Mikrotrends also interpretieren als Wunsch nach übersichtlichen Verhältnissen in einer komplexen Welt.
Trenden bald Microjobs?
Es spricht daraus womöglich auch eine gewisse Ohnmacht angesichts globaler Phänomene, die uns dazu verleitet, unseren Blick auf Mikrobedingungen zu lenken. Kontrollieren im Kleinen, wenn das grosse Ganze überfordert. Man kann das unterschiedlich interpretieren. Die einen sagen: Wohl kann ich die gesellschaftlich verankerte Ungleichbehandlung der Geschlechter nicht von heute auf morgen ändern. Aber ich kann durch kleine – mikrofeministische – Selbstermächtigungsgesten meinen Platz behaupten. Die anderen finden: Kümmert euch lieber um die echten Probleme, anstatt es gleich als sexistischen und mikroaggressiven Akt zu deuten, wenn ein Mann seiner Arbeitskollegin den Drucker erklären will.
Welcher nächste Trend, der das Weniger und Kleiner propagiert, steht an? Ein Microjob, mit dem junge Menschen gerade ausreichend zum Leben verdienen, aber so viel Freizeit wie möglich haben? Der Mikrobusen als neues Schönheitsideal – schliesslich haben in den USA die freiwilligen Brustverkleinerungen in den letzten fünf Jahren sprunghaft zugenommen?
Wir werden es sehen. Fest steht: Was mikro ist, ist gerade ziemlich gross.
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