Strassenverkehr in Corona-ZeitenMehr Platz für Fussgänger und Velofahrer
In zahlreichen Ländern werden die Strassen eiligst «coronatauglich» gemacht – auf Kosten des motorisierten Strassenverkehrs.
Wenn innert kürzester Zeit Strassen verkleinert, Fussgängerwege vergrössert und dem motorisierten Verkehr Einhalt geboten wird, spätestens dann weiss man: Wir stecken in einer Ausnahmesituation. Denn wenn etwas klar ist, dann, dass einschränkende verkehrspolitische Anliegen gemeinhin einen schweren Stand haben. Umso mehr erstaunt es, dass Städte wie New York, Brüssel, Mailand oder Berlin nun genau diesen Weg beschreiten und quasi über Nacht ihre Verkehrsinfrastruktur umkrempeln.
Während immer mehr Länder ihre Massnahmen lockern und die Bevölkerung in Massen nach draussen pilgert, steht auch immer drängender die Frage im Raum, wie der nötige Abstand eingehalten und Überlastungen des öffentlichen Verkehrs sowie der Hauptverkehrsachsen verhindert werden können. Einige Länder reagieren auf diese Frage mit schnellen, tiefschürfenden Umstrukturierungen ihrer Verkehrsinfrastruktur.
In Brüssel etwa sollen die Velowege um 40 Kilometer erweitert werden; das auf Kosten von bestehenden Fahrspuren. Dazu wird das Stadtzentrum durchgehend zur 20er-Zone: Vorrang haben nun die Fussgänger. Auch diese strömen nicht völlig unkontrolliert durch die engen Gassen, sondern werden mit Absperrungen und sogar einem Kreisel gezielt in eine Richtung gelenkt.
Ähnlich ambitionierte Massnahmen hat Berlin getroffen. Dort kommen elf neue Velowege dazu, vor allem entlang von Hauptstrassen. Um den Ausbau zu ermöglichen, wurden auch hier Parkplätze gestrichen oder ganze Fahrspuren den Autofahrern aberkannt. Kritik ist deshalb auch schon programmiert. Die Wirtschaft sei jetzt auf einen fliessenden Autoverkehr und genügend Parkplätze angewiesen, heisst es vonseiten der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg. Sie fordern einen sofortigen Rückbau der neuen Velowege.
Dass diese als temporär bezeichneten Massnahmen von Dauer sein könnten, hofft der Allgemeine Deutsche Fahrradclub. Die neuen Radwege hätten zwar den Beinamen «temporär», schrieb er auf Twitter. «Tatsächlich vollziehen Senat und Bezirke während der Corona-Krise in kürzester Zeit die Neuaufteilung des Strassenlandes.» Es sei ein Zustand, hinter den es kaum zurückgehen werde.
Auf Velokurs ist auch Frankreich. Die Regierung hat ein 20-Millionen-Paket für Veloreparaturen gesprochen – das sind 300’000 Checks à 50 Euro, welche die Velofahrer in Werkstätten einlösen können. Der Rest wird für die Fahrradausbildung und temporäre Parkmöglichkeiten ausgegeben.
Auch in Frankreich sind neue Velowege ein Thema. Paris hat eine der wichtigsten Verkehrsachsen der Stadt, die Rue de Rivoli, für private Fahrzeuge gesperrt. Stattdessen wurden Fahrspuren für Velos und den öffentlichen Verkehr geschaffen. Sollten die vorläufigen Massnahmen ein Erfolg sein, würden sie permanent, kündigte die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, an.
Das von der Pandemie stark gebeutelte New York will laut Aussagen des Bürgermeisters Bill de Blasio bis nächsten Monat 64 Kilometer Strassen für Velofahrer und Fussgänger öffnen beziehungsweise für private Fahrzeuge schliessen. Das längerfristige Ziel seien jedoch 160 Kilometer, so de Blasio. Der Fokus liege auf Strassen in und um Parks, wo sich die Leute, wenn das Wetter wieder wärmer werde, wohl öfter aufhielten. Ebenfalls geplant sind Verbreiterungen von Trottoirs.
Besonders dezidiert hat sich Mailand zu seinen Umstrukturierungen im Strassenverkehr geäussert. Die Grossstadt in der vom Coronavirus bereits früh schwer betroffenen lombardischen Region hat angekündigt, 35 Kilometer Strassen velo- und fussgängerfreundlich umzugestalten. Das Projekt «Strade Aperte» (offene Stassen) widmet sich diesem Unterfangen.
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Zuerst habe man für das Jahr 2030 geplant, jetzt plane man nur noch für 2020. «Anstatt über die Zukunft nachzudenken, müssen wir über das Hier und Jetzt nachdenken», so Pierfrancesco Maran, stellvertretender Bürgermeister von Mailand. «Ich denke, im nächsten Monat werden wir in Mailand, in Italien, in Europa, über einen Teil unserer Zukunft für das nächste Jahrzehnt entscheiden.»
Nebst der Einschränkung des Pendler- und Autoverkehrs stehen beim Ausbau der Velowege auch Klimabedenken eine Rolle. Die Luftqualität ist seit der Corona-Panedemie und den damit verbundenen Ausganschbeschränkungen in vielen Ländern nämlich so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Diese Fortschritte möchten die Länder nicht verspielen. Klar ist: Die Gelegenheit, weltweit den Verkehr auf ein absolutes Minimum zu beschränken, wie die Corona-Krise das geschafft hat, wird es wohl so lang nicht mehr geben.
Janette Sadik-Khan, eine ehemalige Transportbeauftrage von New York City , sagte gemäss dem «Guardian»: «Es ist eine einmalige Gelegenheit, einen frischen Blick auf die eigenen Strassen zu werfen und sicherzustellen, dass sie die Ergebnisse erzielen, die wir erreichen wollen: nicht nur Autos so schnell wie möglich von Punkt A nach Punkt B zu bewegen, sondern es allen zu ermöglichen, sich sicher fortzubewegen.»
sho
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