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Medizin der Zukunft
We will rock you, Diabetiker!

«Billie Jean», der Top-Hit von Michael Jackson, funktionierte recht gut, «Hotel California» von den Eagles sogar noch besser, am besten aber klappte das Experiment mit «We Will Rock You» von Queen. Bei den Versuchen ging es allerdings nicht darum, herauszufinden, welcher Song Menschen am ehesten zum Tanzen anregt. Versuchskaninchen waren Mäuse, die an Typ-1-Diabetes litten, die also selber kein Insulin produzieren können. Mit der Musik wurden sie quasi geheilt.

Mäuse? Diabetes? Rockhymne? Heilung? – Was wie Science-Fiction klingt, ist im Labor von Martin Fussenegger am Departement Biosysteme (BSSE) der ETH Zürich in Basel längst Realität. Für ihre aktuellen Versuche pflanzten die Forschenden den Diabetesmäusen in einem ersten Schritt genmodifizierte Zellen in die Bauchhöhle – und zwar solche, die auf mechanische Reize wie rockige Musik mit tiefen Bässen reagieren und in der Folge Insulin ausschütten können.

A file picture taken on September 18, 1984 showing Rock star Freddie Mercury, lead singer of the rock group "Queen", during a concert at the Palais Omnisports de Paris Bercy (POPB). (Photo by JEAN-CLAUDE COUTAUSSE / AFP)

Dann beschallten sie diese Mäuse, die bäuchlings auf einem Lautsprecher lagen, mit den verschiedenen Songs. Als «We Will Rock You» – ein Song mit tiefen Bässen – lief, begannen die Mäuse innert weniger Minuten, Insulin auszuschütten, und zwar bis sich ihre Blutzucker- und Insulinspiegel nicht mehr von denen von gesunden Mäusen unterschieden. Dies berichtete das Basler Team vergangenen Monat im Ärzteblatt «The Lancet Diabetes & Endocrinology».

Bei der Studie des ETH-Teams handelt es sich um Grundlagenforschung. Trotzdem wurde sie in einer medizinischen Fachzeitschrift publiziert, und das ist kein Zufall. Denn eine klinische Anwendung der musikgesteuerten Insulinausschüttung ist zwar für Diabetespatientinnen noch weit weg – «mindestens zehn Jahre», sagt Fussenegger –, aber das Ziel ist klar: Mithilfe solcher zellbasierter Therapien wollen er und sein Team die Basis dafür legen, künftig verschiedene chronische Krankheiten an der Wurzel behandeln zu können.

Auch Kaffee, Druck und Licht funktionieren als Genschalter

Allen voran Typ-1-Diabetes. In der Schweiz leiden rund 40’000 Menschen an dieser Form von Diabetes, bei der das Immunsystem die sogenannten Betazellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Die Betroffenen können daher kein Insulin produzieren. Sie müssen sich regelmässig in den Finger stechen, um den Blutzucker zu messen, und sich dann bei Bedarf Insulin spritzen. «Das ist eine reine Symptomtherapie», sagt Fussenegger. «Wir müssen überlegen, wie man das Problem wirklich lösen kann.»

Deshalb tüfteln die Forschenden in seinem Labor an diversen Strategien, die das Ziel haben, genmodifizierte Zellen so anzuregen, dass diese Insulin ausschütten. Das gelang dem Team bislang nicht nur mit Rockmusik, sondern auch mit leichtem Druck auf die Haut, mit Kaffee, mit dem grünen Licht auf der Rückseite einer Smartwatch oder – neuestens – auch mit schwachem Gleichstrom aus handelsüblichen Batterien. Für die Experimente wurden die Zellen jeweils genetisch so verändert, dass sie entweder auf Strom, auf mechanischen Druck, auf Koffein oder auf Licht reagierten.

All diese Methoden funktionierten, als die Forschenden sie in Diabetesmäusen testeten, sprich: Die Mäuse produzierten genug Insulin, um die Blutzuckerwerte nachhaltig zu kontrollieren.

«Unsere Projekte sollen auch zum Denken darüber anregen, was technisch möglich ist.»

Martin Fussenegger, ETH Zürich

Insulinproduktion mit Musik, Kaffee, Fingerdruck oder Smartwatch? – Sind das nicht alles einfach Spielereien, Herr Fussenegger? «Nein», sagt der Professor für Biotechnologie und Bioingenieurwissenschaften. «Das sind alles ernst gemeinte Projekte.» Und fügt hinzu: «Klar, sie sollen auch zum Denken darüber anregen, was technisch möglich ist.»

Für ihre Versuche verwendeten die Forschenden in der Regel menschliche Nierenkrebszellen, denen sie die benötigten genetischen Module einbauten. Damit diese Zellen nach der Transplantation vom Immunsystem der Mäuse nicht abgestossen wurden, verkapselten die Forschenden sie in kleine Kügelchen aus Algen-Gelatine. Einige Hundert dieser Kügelchen spritzten sie dann der Maus als Implantat unter die Haut oder in den Bauchraum. «Die kleben aneinander wie Kaviar», sagt Fussenegger.

Hohe Hürden für eine Anwendung bei Patienten

Am einfachsten – und möglicherweise am realistischsten für eine klinische Anwendung – sind aber jene veränderten Zellen, die keine Rockmusik, keinen Strom oder keinen Druck, also keine äussere Stimulation, brauchen, um Insulin zu produzieren. Diese Zellen waren genetisch so programmiert, dass sie auf Glukose, also den Blutzucker, reagierten. Steigt der Zuckerspiegel an, merkt das die Zelle und schüttet prompt Insulin aus – wie das eine gesunde Betazelle in der Bauchspeicheldrüse macht.

Auch mit dieser Strategie produzierten die Zellen in diabetischen Mäusen genügend Insulin, um die Blutzuckerspiegel in Schach zu halten. «Ich bin Fan von diesem System», sagt Fussenegger. «Ein zellbasierter geschlossener Kreislauf ist sicher das Beste, was man bei Diabetes machen kann.»

Nur: Eine klinische Anwendung ist auch hier noch in weiter Ferne. Die Experimente mit den Glukose-empfindlichen genveränderten Betazellen publizierte Fusseneggers Team schon 2016, seither ist nicht viel gelaufen. Denn zwei grosse Hürden stehen einer Therapie von Patientinnen im Weg: Zum einen handelt es sich bei den in den Mäuseversuchen verwendeten Zellen um genmodifizierte menschliche Krebszellen, die für einen Einsatz bei Patienten nicht infrage kommen. Allenfalls würden sich Bindegewebs­zellen, sogenannte Fibroblasten, dafür eignen, sagt Fussenegger. Dazu kommen weitere offene Fragen, etwa: Wie lange leben die Zellen? Muss man sie regelmässig ersetzen? Produzieren Sie auch noch nach Monaten und Jahren genügend Insulin?

Zum anderen fehlen laut Fussenegger die Strukturen und vor allem die Finanzierung für eine Umsetzung der Forschungsresultate in die Praxis. «Klinische Versuche mit zellbasierten Therapien sind etwas vom Schwierigsten», sagt Fussenegger. Und daher auch sehr teuer. Ein Versuch könne insgesamt mehrere Hundert Millionen Franken kosten. «Das ist für uns finanziell völlig ausser Reichweite.» Es fehle in der Schweiz generell an Finanzierungsstrukturen für die Translation vom Labor in die Klinik. Auch die Industrie warte lieber ab und springe allenfalls erst in einer späten Phase der klinischen Versuche auf. 

Der Mensch hat «selber genug Zellen»

Einen Lichtblick gibt es aber: Anfang Oktober zügelte das Department BSSE vom provisorischen Standort auf dem Rosental-Areal in Kleinbasel in das neue BSS-Gebäude der ETH auf dem Campus Schällemätteli auf der anderen Seite des Rheins. Dort steht den Forschenden ab Ende Jahr eine sogenannte GMP-Anlage (Good Manufacturing Practice) zur Verfügung. Deren Labore sind in der Lage, biologische Produkte für menschliche Gen-, Zell- oder Gewebetherapien herzustellen, und zwar in einer Qualität, die den strengen Anforderungen für klinische Versuche mit Patienten genügt. In diese Anlage setzt Fussenegger grosse Hoffnungen.

Derweil denkt der Biotechnologe schon weiter. «Am liebsten würde ich gar keine fremden Zellen in den Körper hineinbringen», sagt er, «wir haben schliesslich selber genug Zellen.» Die Covid-Impfung habe gezeigt, dass man RNA-Moleküle in die Zellen einschleusen könne, die dann vor Ort ein entsprechendes Eiweiss produzierten. Er ist daher überzeugt: «Das müsste prinzipiell auch mit Insulin klappen.»