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Max Küng findet verschüttete Erinnerungen
Weshalb bewahrt man so etwas wie Schul­zeugnisse auf?

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«Mittelalter» steht mit dickem Filzstift geschrieben auf der Schachtel, die ich in einer unterbelichteten Ecke im Keller fand, gleich neben einer mit der Aufschrift «Pleistozän». Die «Pleistozän»-Schachtel ist gefüllt mit Zeugs, das ich schon ewig nicht mehr brauche, von dem ich mich aber scheinbar nie habe trennen wollen. Erinnerungsstücke, meist papierner Natur, etwa Zeugnisse.

Weshalb bewahrt man so etwas wie Sekundarschulzeugnisse auf? Damit man später noch weiss, dass man im Turnen e anche in italiano eine 3,5 hatte? Oder die «Ärztliche Schülerkarte» aus festem Graukarton? «Schwachsinnigkeit» las ich dort unter der Rubrik «krankhafter Befund», aber zu meiner Beruhigung stellte ich fest, dass die schwer zu entziffernde Handschrift des Schularztes doch etwas anderes notiert hatte, nämlich «Schwachsichtigkeit» – verbunden mit der Empfehlung, «dringend!» einen Augenarzt aufzusuchen.

Im «Pleistozän»-Karton stiess ich auch auf die mit Schreibmaschine getippte Menükarte meines Konfirmationsessens im Restaurant Chez Armin im Hotel Bad Maisprach BL. Es gab am Palmsonntag des Jahres 1985 Steak au veau mit Pommes dauphines – aber nicht für mich, denn ich ass kein Fleisch. Es war damals einigermassen seltsam, dass ein Bauernbub Vegetarier war. Manche fanden diese Empathie dem Tier gegenüber übertrieben, ja ein besorgniserregender Ausdruck von Verweichlichung.

Vegetarier wurde ich aus dem simplen Grund, dass ich das Quieken der Sau nicht aushielt, bevor ihr bei der Hausschlachtung mit dem Bolzenschussgerät ein Ende bereitet wurde und sie alsbald aufgeschlitzt kopfüber vom Balken hing, ihr Blut in einen Kessel rann und kurz darauf im Keller verwurstet wurde, wie ihre Innereien auch.

Es gehörte zu meinen kindlichen Aufgaben, nicht nur das Jahr über die Essensabfälle in den Trog der Sau zu schütten, sondern auch nach der Schlachtung dem Onkel den Schwanz des Tieres zu bringen, ein sich kringelndes bleiches Ding. Er drückte mir dann jeweils einen Fünffränkler in die Hand und sagte halblaut: «Sag zu Hause nichts.» Denn der Schwanz war ein Geschenk, der Kurierlohn ein Geheimnis. Den Grosseltern brachte ich das wabbelige Hirn in einem Mucheli, was natürlich viel schöner klingt als «kleine Schüssel». Das Hirn der Sau kam wie der Schwanz beim Onkel in eine Suppe, die mit grossem Genuss gegessen wurde.

Alles vergessen, aber doch noch auf der Festplatte des menschlichen Gehirns gespeichert. Deshalb bewahrt man wohl das alte Zeugs auf: Es sind Zugangscodes zu den unter den Trümmern der Dekaden verschütteten Erinnerungen.

Die Schachtel «Mittelalter» beinhaltet Relikte aus dem nach Nikotin riechenden Abschnitt zwischen dem zwanzigsten und dem dreissigsten Lebensjahr, als man anfing, so etwas wie Verantwortung zu übernehmen, aber doch noch vor allem Spass haben wollte. Und darin fand ich etwas, das schon nur beim Anblick Gefühle diverser Natur auslöste: Ein broschiertes Heft mit funkelnden Sternen auf dem Umschlag, und in weisser Schrift gedruckt: «ASTRODATA». Es war ein Geburtshoroskop mit computerbasierter Persönlichkeitsanalyse.

Diese Astrodata-Dinger waren in gewissen Kreisen sehr en vogue. Ich erinnerte mich: Es war ein Geschenk meiner damaligen Freundin, die schwer auf Mystik und Artverwandtes stand. Am 16. August 1990 wurde es erstellt. Damals war ich einundzwanzig Jahre alt. Auf vierzig Seiten steht geschrieben, wer ich bin – und was aus mir hätte werden können. Mit einem leicht gequälten Lächeln schlug ich die Broschüre auf und fing an zu lesen. (Fortsetzung folgt)

Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».