Max Küng schmökertMeine Jagd nach dicken Büchern
Tausendseitige Romane können nicht gut sein – heisst es. Unser Autor sieht das anders und bereitet sich auf einen Radklassiker vor.
Ein Buch, welches dicker ist als tausend Seiten, könne nicht gut sein. Das hat Marcel Reich-Ranicki einst gesagt, der legendäre Literaturkritiker, im Fernsehen, im «Literarischen Quartett» auf ZDF, ich habe es mit eigenen Augen gehört – und seither nicht wieder vergessen. Reich-Ranicki war ein zwanghafter Nörgler, sehr zur Freude des Publikums. An seinen Satz der tausend Seiten muss ich jeweils denken, wenn ich im Buchladen auf die Jagd gehe.
Aber ich sehe es anders. Auch wenn ich meinen letzten Tausendseiter von Knausgård («Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit») wegen Ermüdungsbruch der Leseleidenschaft auf Seite 872 beenden musste, so locken mich dicke Bücher stets, denn bei einem tausend Seiten fetten Schinken hat man das Gefühl, man bekomme etwas fürs Geld.
Dicke Dinger tragen das Versprechen, dass man in einer sich über mehr als tausend Seiten spannenden, komplex gestrickten Geschichte versinken, ja für eine Weile gar verschwinden kann. Ganz so wie in einer epischen TV-Serie. Und auch wenn man so ein Buch nicht sofort lesen mag: Mit seinem breiten Rücken macht es sich im Regal gut als Notvorrat.
Keine tausend Seiten dick, sondern deren nur 966, trotzdem schwer wie ein Ziegelstein (2040 Gramm), in rotes Leinen gebunden und mit goldgeprägtem Titel versehen, ist «The Road Book 2023 – Cycling Almanack». Die altertümliche Schreibweise des Wortes Almanach verweist darauf: Da waren Briten am Werk. Und dass das Nachschlagewerk nur in englischer Sprache zu haben ist, dürfte nicht weiter tragisch sein, denn es besteht zu einem grossen Teil aus Namen, Ziffern und Zahlen.
In «The Road Book 2023» sind die Resultate aller Profivelorennen des letzten Jahres versammelt, und das sind nicht wenige, denn es existieren nicht nur bekannte Rennen wie die Tour de France und Mailand–San Remo, sondern viele andere mehr, manche kürzer, andere länger. Die Classic Lorient Agglomération von Plouay nach Plouay (159,6 km) etwa. Oder die Van Merksteijn Fences Classic von Kortrijk nach Zwevegem (199,4 km). Sowieso, die Namen dieser Rennen: Gedichte! GP Industria & Artigianato di Larciano (199,8 km); Clásica Jaén Paraíso Interior (178,9 km); La Route Adélie de Vitré (197,8 km); De Brabantse Pijl (205,1 km) oder Grosser Preis des Kantons Aargau (173,8 km).
«The Road Book» bekommt man für 50 £ direkt beim gleichnamigen Verlag. Und man findet darin nicht nur alle essenziellen Daten, sondern auch erhellende Details! Beispiel: Als am 30. Juli 2023 Marlen Reusser die achte Etappe der Tour de France Femmes gewann (Pau–Pau; Zeitfahren; 22,6 km) betrug die Temperatur 18 Grad, und der Wind kam mit 15 km/h aus Westen – und am Rande von Seite 422, wo all dies nachzulesen ist, steht unter der Rubrik «Trivia»: Demi Vollering erhielt als Gesamtsiegerin der Frauentour 50’000 Euro; Jonas Vingegaard, Gewinner bei den Männern, 500’000 Euro.
Der Almanach ist immer in Griffweite, wenn ich ein Velorennen im TV schaue, sicher auch an diesem Wochenende bei Paris–Roubaix. Denn bei so einem stundenlangen Rennen gibt es immer wieder die eine oder andere Gelegenheit, ein wenig in einem Buch zu schmökern.
Übrigens: Den Eintrag zu Paris–Roubaix (256,6 km) findet man auf Seite 182. Folglich folgen noch 784 Seiten. Und das bedeutet: Es wird noch viel geschehen, denn das Velojahr, es hat eben erst begonnen. Ich habe nachgezählt: 2023 waren es präzis 135 Rennen, die nach Paris–Roubaix noch folgten. Ein jedes davon ein Versprechen (Epik, Spannung und Drama) – nicht anders als bei einem Roman von tausend Seiten oder mehr.
Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».
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