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Max Küng überlegt
Wie oft ging ich in meinem Leben schon ins Bett?

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Es geschah irgendwo auf der Autobahn A13 zwischen Landquart und Bad Ragaz, spätnachts. Der Kilometerzähler des Autos hüpfte, und die schöne Zahl erschien: 166’666! Ich nahm den Fuss vom Gaspedal, liess die Nadel des Tachos sinken, damit der Schnapszahljubiläumskilometer länger dauerte, gratulierte dem Volvo und summte «Happy Birthday», während der Motor leise brummte. Links und rechts erhoben sich im mageren Mondlicht still und dick die Berge, der Vilan (2376 Meter) einerseits, der Pizol (2844 Meter) andererseits, «166’666» leuchtete im Armaturenbrett, aber schon bald sprang der Zähler auf 166’667. Der Moment war vorbei.

Als ich, zu Hause angekommen, zu Bett ging und die Decke zurückschlug, überschlug ich, zum wievielten Mal ich dies nun bereits tat. Es gab die eine oder andere Nacht in meinem Leben, in der ich nicht zu Bett gegangen war und die folglich in der Berechnung fehlte. Es waren im fahlen Schein von TV-Schirmen durchwachte Nächte in der Kindheit; es waren Nachtübungen in der Rekrutenschule in den Wäldern um Moudon VD; es waren in anderen Wäldern und Jahre später Technopartys, die erst richtig losgingen, wenn andere ihre Laufschuhe banden, um beim Vogelgezwitscher im Morgengrauen Frühsport zu treiben.

Sicher war nochmals später dann auch das eine oder andere Kind daran schuld – schreiend wegen Masern, Mumps, was weiss ich –, dass man wach blieb. Doch meinen Berechnungen zufolge ging ich ziemlich genau 20’000 Mal in meinem Leben zu Bett. Führte mehr oder minder immer dasselbe Ritual aus, putzte 20’000 Mal die Zähne, zog mich 20’000 Mal aus, schlüpfte 20’000 Mal unter die Decke, legte mich auf die rechte Seite und schloss die Augen, vergrub den Kopf im Kissen, fuhr das Gehirn runter, schlief ein.

Worüber ich sehr froh war und bin: Nur selten fand ich dann keinen Schlaf, weil mich etwas plagte. Ein Arzt hatte mir einst erklärt, dass mit dem von Natur aus zarten Seelengerüst eines Menschen alles in Ordnung sei, solange man beim Einschlafen denken könne, was man denken wolle. Es sei so etwas wie ein tagtäglicher Resilienzselbsttest.

Seither übe ich mich darin, beim Einschlafen keine Dinge zu denken, die zu schwer wiegen. Damit die Last des Alltags einen nicht in die Nacht verfolgt, einem nicht auf der Bettdecke hockt und sie beschwert oder einem Träume beschert wie auf einer Radierung von Francisco Goya oder einem Bild von Johann Heinrich Füssli gar.

Als ich am Ende des Tages einschlief, an dem mein Auto auf der A13 zwischen den Bergen die 166’666-Kilometer-Grenze überschritten hatte, dachte ich über dieses Auto nach. Denn ich mag es, vor allem, weil es so zuverlässig, robust und praktisch ist. Es schluckt ganze Sofas und dank des umklappbaren Beifahrersitzes auch immerhin die Hälfte der grössten Mortadella der Welt (6,25 Meter; gewurstet von Gino Venturi in Arrone nördlich von Rom), sollte man jemals die eine oder andere Hälfte der grössten Mortadella der Welt transportieren müssen. Und es hat keinen Touchscreen, sondern noch richtige Drehknöpfe und Drucktasten, mit denen man die Dinge regeln kann.

Hoffentlich schafft der Volvo weitere 166’666 Kilometer, verdoppelt seine bisherige Laufleistung. Und ich eventuell ebenfalls. Nochmals 20’000 Nächte! Dass wir dies zusammen erreichen. Denn was sind schon 166’666 Kilometer? Und was 20’000 Nächte? Nichts, verglichen mit der Ewigkeit. Noch viel Zeit also, um mit dem Volvo einmal nach Arrone nördlich von Rom zu fahren. «Das sind ganz und gar unwichtige Gedanken», dachte ich noch, als ich dies dachte, aber dann schlief ich bereits tief und fest.

Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».