Vom Rebellen zum Eishockey-PionierHeilsame Flucht: Wie Marcel Jenni im hohen Norden seine Ruhe fand
Aus seinem überstürzten Abgang zu Färjestad wurden sechs erfolgreiche Jahre. Im Champions-League-Final fordern die Schweden nun die ZSC Lions. In Marcel Jennis Brust schlagen zwei Herzen.

- Marcel Jenni verliess Lugano einst für Färjestad nach einem Konflikt mit Coach Jim Koleff.
- In Schweden erlebte er sechs erfolgreiche Saisons und wurde Meister.
- Er schätzt dort den Teamgeist und die Integration in Entscheidungsprozesse.
- Jenni beobachtet die Herausforderungen in Schwedens Integrationspolitik mit Besorgnis.
Marcel Jenni muss schmunzeln, als er bei einem Matcha-Latte im Tibits unweit des Bahnhofs Oerlikon an jene turbulenten Tage im Januar 2000 zurückdenkt, die sein Leben auf den Kopf stellten. «Es hat sich einfach so ergeben, wie so vieles in meinem Leben», sagt er. Und wie so vieles in seinem Leben war es gut für ihn.
Der rebellische Nationalstürmer hatte sich in Lugano mit Coach und General Manager Jim Koleff überworfen, und weil der Meister nicht die Konkurrenz stärken wollte, suchte man für Jenni einen Club im Ausland. Via Nationalcoach Ralph Krueger und dessen Assistent Bengt-Ake Gustafsson kam der Kontakt zum schwedischen Traditionsclub Färjestad zustande, und so zog Jenni mit 25 von einem Tag auf den anderen von der Sonnenstube der Schweiz in den hohen Norden.
Er konnte seine Geschichte neu schreiben
«Es war ein Kulturschock», blickt der Zürcher zurück. «Die Sonne schien schon ein bisschen länger im Tessin. Statt eines feinen Espresso auf der Piazza gab es nun verwässerten Kaffee. Und die Pasta war nicht mehr al dente und wurde mit Ketchup übergossen. Aber für mich war es das Beste, was mir passieren konnte. In der Schweiz war ich in eine Schublade gesteckt worden, in Schweden hatte ich ein weisses Blatt vor mir und konnte meine Geschichte neu schreiben. Ich fand meine innere Ruhe wieder.»
Aus der Flucht nach Schweden wurden für Jenni sechs Saisons mit fünf Playoff-Finals und einem Meistertitel (2002). Der kämpferische Flügel wurde mit seiner aufopfernden Spielweise zum Publikumsliebling bei Färjestad und zum Wegbereiter für weitere Schweizer in Schweden. Nach ihm zogen auch Martin Plüss und Martin Gerber nordwärts, später Severin Blindenbacher, Patrick von Gunten oder Lian Bichsel. Zurzeit brilliert Nationalverteidiger Dominik Egli bei Frölunda in Göteborg.

Neben der grösseren Spielerauswahl – Schweden hat über 60’000 Lizenzierte, mehr als doppelt so viele wie die Schweiz – und der besseren Vereinbarkeit von Schule und Sport nennt Jenni vor allem einen grossen Unterschied zwischen den beiden Hockeykulturen: «In Schweden wird das Miteinander grossgeschrieben. Der Team-first-Gedanke wird da wirklich gelebt. Jeder wird für seine Qualitäten geschätzt, nicht nur die Skorer. Und die Spieler werden viel mehr involviert in die Entscheidungen. So rutscht man ganz natürlich in eine Leaderrolle hinein.»
Hatte er sich in Lugano als Starspieler permanent unter Druck gefühlt, gab man ihm bei Färjestad Raum zur Entfaltung. Rückblickend sagt er: «Diese Wertschätzung half mir, menschlich wie spielerisch zu wachsen. Und ich spürte sie auch in der Stadt. Die Leute hatten Freude an mir und sprachen mich auf der Strasse an. Das war Balsam für meine Seele. Karlstad ist eine Hockeystadt, und das Hockey-Fachwissen der Leute ist in Schweden ohnehin gross.»
Jenni genoss die Idylle in der Universitätsstadt und die Natur. «Ich liebte den Winter mit dem vielen Schnee und auch, dass es schon am Nachmittag dunkel wurde. Das schuf eine gemütliche Atmosphäre.» Ihm, der damals noch jung und wild gewesen sei, habe diese Ruhe gutgetan und sie habe ihn geerdet. Und wenn er jeweils nach dem Sommer wieder nach Schweden zurückgekehrt sei, habe sich das wie ein Heimkommen angefühlt.
Das Erfolgsgeheimnis Färjestads
Die familiäre Atmosphäre sei das Erfolgsgeheimnis Färjestads, glaubt Jenni. Der Club spielt seit langem in der schwedischen Liga vorne mit, wurde 2022 letztmals Meister und steht aktuell wieder auf Rang 2. «Sie verstehen sich bei Färjestad als grosse Familie und schauen zu ihren Leuten. Der Zusammenhalt ist gross, über die ganze Organisation hinweg.»
Sein früherer Sturmpartner Rickard Wallin ist heute General Manager, Ex-Teamkollege Thomas Rhodin Assistenzcoach, und Hakan Loob, der Jenni einst als General Manager zu Färjestad lotste, mischt im Pensionsalter immer noch im Hintergrund mit.

Seit er 2005 in die Schweiz zurückkehrte, war Jenni nicht mehr oft in Schweden. Aber aus der Ferne hat er mitbekommen, dass der Wohlfahrtsstaat zusehends mit Problemen zu kämpfen hat. «So sehr die Schweden auf Integration gesetzt haben, inzwischen haben sie ein grosses Integrationsproblem», sagt er. «Das ist für viele Schweden sehr irritierend und für die Politiker eine Herkulesaufgabe. Ich hoffe, dass sie einen kühlen Kopf bewahren, das Problem in den Griff bekommen und trotzdem ihren Werten treu bleiben.»
Für Jenni waren die fünfeinhalb Jahre in Schweden eine wertvolle Zeit, die seinem Leben eine neue Richtung gaben. Einst als Rock ’n’ Roller bekannt, ist er ruhiger geworden. Er liest, inzwischen 50 geworden, Bücher von Zen-Meistern, joggt viermal die Woche, um den Kopf zu lüften, und versucht, als Schweizer U-20-Nationalcoach den jungen Spielern zu vermitteln, im Hier und Jetzt zu sein.
An die letzte Junioren-WM in Ottawa nahm er Performance-Coach Stefan Schwitter mit, und er berichtet nicht ohne Stolz, dass 23 von 25 Spielern ein positives Feedback zur Zusammenarbeit gaben. Körperlich hätten die Schweizer international aufgeholt, beobachtet Jenni. Die grössten Defizite ortet er noch im Mentalen. «Auch dieser Muskel muss trainiert werden», sagt er und tippt sich an den Kopf. Schwitter ist seit der vergangenen Saison auch im A-Nationalteam dabei, wo Jenni als Assistent von Patrick Fischer wirkt und an der WM in Prag die Silbermedaille feierte.
Wenn Färjestad am Dienstag in der Swiss-Life-Arena gegen die ZSC Lions um den Titel in der Champions League spielt, schlagen zwei Herzen in Jennis Brust. Zum einen erlebte er in Karlstad wegweisende Jahre und pflegt er immer noch Kontakt zu früheren Teamkollegen. Zum anderen ist er ein stolzer Vertreter und Verfechter des Schweizer Eishockeys und hat er mit den Nationalteams schon manche bittere Niederlage gegen die Schweden einstecken müssen. «Das nervt gewaltig», sagt er. «Es ist Zeit, das zu ändern.»
Wem drückt er also die Daumen? Er schmunzelt, überlegt kurz und sagt. «Als Schweizer helfe ich schon den Zürchern. Sie hätten es verdient.»
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