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Mamablog: Interview zum Buch «Genauso, nur anders»
«Ist es für junge Frauen heute einfacher?»

In den Geschichten der jungen Frauen geht es viel um Scham, Druck und Sorgen: Einblick in das Buch «Genauso, nur anders» von Salome Müller und Andrea Arežina.
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Warum haben Sie ein Buch über das Erwachsenwerden von jungen Frauen geschrieben?

Andrea Arežina: Wir beide hätten uns in der Pubertät eine grosse Schwester gewünscht, die vorausgegangen wäre und uns vorbereitet hätte auf die Zeit des Erwachsenwerdens. Wir sehnten uns damals nach jemandem, der uns gesagt hätte: «Kommt gut. Du bist nicht seltsam.» Es wäre schön, wenn unser Buch für die jungen Frauen heute eine solche grosse Schwester oder Freundin wird.

Salome Müller: Wir wollten ein journalistisches Aufklärungsbuch schreiben, das auch für Erwachsene funktioniert. Ältere Frauen schildern uns, dass es sich für sie beim Lesen anfühlt, als erlebten sie einen Teil ihrer Jugend nochmals und würden diese dadurch verarbeiten. Wir finden, dass das Buch auch von Vätern gelesen werden soll – generell von Männern, damit sie verstehen, was es bedeutet, ein Leben als Frau zu führen.

Viele der geschilderten Erlebnisse der Mädchen sind keine leichte Kost. Es geht zum Beispiel um psychische Gewalt, um Ängste vor sexualisierter Gewalt, um Schönheitsdruck und Abhängigkeiten. Warum so viel Schwere?

Salome Müller: Die geschilderten Themen im Buch sind für sehr viele Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft Alltag, die Schwere ist ihre erlebte Normalität. Das zeigen auch die Zahlen: In der Schweiz sind jedes Jahr etwa 27’000 Kinder von häuslicher Gewalt betroffen (EBG), 70 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt sind weiblich (BFS). Zudem erleben etwa zwei Drittel der jungen Frauen in ihren ersten Beziehungen psychische Gewalt oder haben einen Partner beziehungsweise eine Partnerin, der oder die übermässig kontrollierend oder eifersüchtig ist.

Frauen sind in Ihrem Buch nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen. Ein Mädchen erzählt unter anderem von ihrer toxischen und vermutlich narzisstischen Mutter. Ein anderes von einer toxischen Freundinnenschaft.

Salome Müller: Es geht in diesen Geschichten stark um emotionale Abhängigkeit und Konkurrenz zwischen Frauen. Im besten Falle wirken die Geschichten prophylaktisch, indem zum Beispiel Mütter beim Lesen erkennen, dass sie ihren Töchtern oftmals die Gefühle absprechen oder ihre Grenzen (ihrer Integrität) überschreiten.

Auch das Thema Scham kommt immer wieder vor. Die jungen Mädchen schämen sich zum Beispiel für ihre Periode, ihre Sexualität, ihren Körper. Wie war das in Ihrer Jugend?

Andrea Arežina: Ich habe mich für viele Dinge geschämt und das meiste mit mir selbst ausgemacht. Ich habe zwar das Bedürfnis gehabt, mit meiner Mutter darüber zu sprechen, aber die Scham war oft stärker. Ich wünsche mir, dass sich Mädchen durch das Lesen der Geschichten von anderen Frauen weniger allein mit ihrer Scham fühlen.

Salome Müller: Scham ist mächtig. Oft fehlen den Menschen aber die Worte für das, was sie beschämt. Wenn man versteht, dass Scham häufig systematisch erzeugt wird, hilft das, die eigenen Gefühle zu verstehen.

«Mir war nicht bewusst, wie wichtig es für die Jugendlichen ist zu erzählen, ohne mit Ratschlägen zugeschüttet zu werden.»

Andrea Arežina, Autorin

Systematisch?

Salome Müller: Eine junge Frau schilderte uns, wie sie von ihrem Freund kontrolliert und beschimpft wurde. Sie suchte den Fehler bei sich. Sie dachte, es liege an ihr. Wir möchten mit dieser Geschichte den Mädchen aufzuzeigen, wie Männer Scham als Macht nutzen können. Erkennt ein Mädchen die Systematik hinter der Beschämung, erkennt sie auch, dass sie persönlich keine Schuld trägt. Sie wird sich vielleicht schneller wehren und sich weniger mit einer Beziehung abfinden, die gewaltvoll sind. Dasselbe gilt für «Gaslighting» (psychische Manipulation, um andere an ihrer Wahrnehmung zweifeln zu lassen, Anm. der Redaktion). Es ist wichtig, zu lernen: Das sind meine Gefühle und die sind okay, niemand darf mir diese einfach absprechen. Oft hören die jungen Menschen nämlich, dass sie übertreiben oder dass etwas nicht so gemeint war. Es braucht Mut und Kraft, sich dagegenzustellen.

Sie haben mit allen Mädchen und Frauen mindestens zwei Gespräche geführt, um ihre Geschichten zu erzählen. Was haben diese Begegnungen bei euch ausgelöst?

Andrea Arežina: Es gab einige traurige Momente. Zum Beispiel als eine junge Frau erzählte, dass sie nach dem Ausgang nur durch die Strassen laufe, wenn sie einen Kapuzen-Pullover trage und damit ihr Gesicht und die Haare verstecke. Sie fühlt sich sicherer, weniger in Gefahr. Was mich überrascht hat: Alle haben sich für das Gespräch bedankt, dass wir ihnen zugehört haben. Mir war nicht bewusst, wie wichtig es für die Jugendlichen ist zu erzählen, ohne mit Ratschlägen zugeschüttet zu werden.

Salome Müller: Mir wurde in den Gesprächen bewusst, wie viel Glück ich hatte als Kind und Jugendliche. Als ich vierzehn Jahre alt war, führte ich meine erste Beziehung. Diese dauerte drei Jahre, mein Freund war sehr eifersüchtig. Ich habe das damals wohl so gesund überstanden, weil ich im Leben fest verankert war: Ich schrieb gute Noten in der Schule, wuchs behütet auf und fühlte mich von meiner Familie sehr geliebt. Wäre ich allein gewesen, weniger privilegiert, wäre diese Beziehung unter Umständen viel toxischer gewesen. Statistiken zeigen auch: Was in diesen jungen Jahren in Beziehungen passiert, prägt die zukünftigen Beziehungen. Ist der erste Freund gewalttätig, wird es der nächste und übernächste möglicherweise auch sein.

Sind das Fakten, die Jugendliche im Aufklärungsunterricht lernen sollten?

Salome Müller: Die emotionale Reife auszubilden, ist genauso wichtig wie das Wissen über die Anatomie. Es stärkt, wenn man seine Gefühle einordnen und benennen kann. Viele der jungen Frauen, mit denen wir geredet haben, konnten das. Das hat mich beeindruckt. Ich bin Mitte Dreissig und erkenne zum Teil erst heute, was mir teilweise passiert ist.

Ist es also für die jungen Frauen einfacher geworden?

Andrea Arežina: Ich glaube nicht. Mir wurde das sehr stark im Jahr 2019 bewusst. Am Frauenstreik demonstrierten Hunderttausende von Frauen Hand in Hand. Ich fand das sehr schön und gleichzeitig fragte ich mich, ob das jetzt den jüngeren Frauen hilft und ob es dazu führt, dass unsere Gesellschaft für sie sicherer und gleichberechtigter wird. Ich war nicht sehr optimistisch und wollte den jungen Frauen konkret etwas anbieten. Mein Pessimismus war schlussendlich die Motivation für dieses Buch. Ich wollte etwas schaffen, was nicht nur erwachsene Frauen verbindet, sondern auch junge Frauen stärkt.

Salome Müller: Am Frauenstreiktag haben wir eine grosse Solidarisierung unter den Frauen wahrgenommen. Auf dem gleichen Prinzip beruht unser Buch. Frauen erleben und fühlen Ähnliches, auch wenn sie unterschiedlich alt sind oder sich in unterschiedlichen Lebenswelten bewegen. Alles, was wir tun können, ist, uns gegenseitig zu begleiten und zu bestärken.