MamablogIdentitätsroulette im Kleinkindalter
Warum wir Kindern den Raum für Identitätsspiele lassen sollten, ohne sie in ein Korsett der Hyper-Wokeness zu zwängen.
Unsere Bloggerinnen und Blogger machen Ferien. Deshalb veröffentlichen wir eine Auswahl unserer meistgelesenen Beiträge dieses Jahres. Dieser Artikel wurde erstmals am 28.05.2024 publiziert und am 30.07.2024 aktualisiert.
Kinder im Vorschulalter waren schon immer Meister der Metamorphose: heute Köchin, morgen Zebra. Umso mehr frage ich mich, wieso die Antwort auf das kindliche «Ich bin der König der Löwen!» bei manchen Eltern ein ernstes «Schätzchen, hast du bewusst nicht Königin gesagt?» ist. Ganz ehrlich – ich finde solche Reaktionen nicht angebracht. Sie führen dazu, dass das spielerische Erkunden von Identitäten in ein Korsett aus Hyper-Wokeness gepresst wird, und verfehlen damit komplett das Ziel einer unvoreingenommenen und inklusiven Gesellschaft.
Gefahr von Hyperindividualismus
Auf dem Spielplatz ist die Bühne bereitet: Ein vierjähriges Mädchen, die Kappe keck verdreht, erklärt lachend, es sei nun ein Junge. Seine Mutter stimmt zu: «Klar, Schatz, du kannst auch ein Junge sein. Weisst du, viele Mädchen werden Jungen, wenn sie älter werden.» Eine harmlose Zustimmung, die Weltoffenheit vermitteln soll, oder ein Schritt auf dem dünnen Eis der Identitätsprägung? Ich habe bei Frau Dr. Hannah Gräber, Fachärztin Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Entwicklungspädiatrie, nachgefragt:
«Das Spiel mit dem sozialen Geschlecht ist ein natürlicher Teil der Entwicklung und absolut essenziell. Kinder schlüpfen in temporäre Rollen, die sie später wieder ablegen. Hier bereits an Gender-Dysphorie zu denken, ist nicht angemessen», erklärt die Ärztin. Dies bedeute jedoch keineswegs, dass wir gesellschaftliche Normvorstellungen einfach über unsere Kinder stülpen sollten. Vielmehr gehe es um die Bestärkung ihres biologischen Geschlechts bei einer möglichst unvoreingenommenen und wertoffenen Erziehung. Ein Junge, der gerne Kleidchen trägt und sich schminkt, soll dies uneingeschränkt tun dürfen. «Du bist gut so, genau wie du bist», sollte die Botschaft sein, die wir vermitteln.
«Wir entstammen einem binären System, das derzeit einen längst überfälligen Wandel erfährt. In manchen Fällen resultiert aus der Fülle an Möglichkeiten aber auch eine Art ‹Hyperindividualismus›», erläutert Gräber. Genau dieses Wort – Hyperindividualismus – habe ich gesucht, um zu beschreiben, was ich schon so häufig beobachtet habe. In unserer Bemühung, jedem Kind zu ermöglichen, seine einzigartige Persönlichkeit zu entwickeln, könnten wir unbeabsichtigt den Druck erhöhen, ständig besonders und unterschiedlich sein zu müssen – und dies auch in Bezug auf die Geschlechtsidentität. Es ist also entscheidend, dass wir ein Gleichgewicht finden: Kinder sollen sich entfalten können, ohne dem Druck zu erliegen, sich eine einzigartige, spezielle Identität zurechtlegen zu müssen.
Ist das biologische Geschlecht unbedeutend?
Ich spreche offen – auch auf die Gefahr hin, dass manche meine folgenden Gedanken als intolerant betrachten könnten. Ich mache mir Sorgen um die möglichen Auswirkungen einer zu fluiden Erziehung auf die nächste Generation. Wenn wir Kinder von klein auf darin bestärken, dass deren biologisches Geschlecht unbedeutend ist – könnte dies zu einer körperlichen Dysphorie führen? Gräber kann die Frage nicht beantworten. Und ich schon gar nicht. Eines weiss ich jedoch: Wir sollten weder die Entdeckerlust unserer Kinder begrenzen noch diese unbedacht in Gewässer steuern, deren Tiefe sie nicht ermessen können. Ein Dialog, der sie ihrem Alter entsprechend aufklärt und ihnen zugleich Raum gibt, ihre eigene Geschichte der Identität zu entdecken, ist hier gefragt – nicht ein vorschnelles Benennen von Rollen, die noch im Fluss sind. Wie die verdrehte Kappe auf dem Kopf eines Kindes sollten auch unsere Vorstellungen von Geschlecht flexibel und anpassungsfähig bleiben, ohne dabei die kindliche Freude am Rollenspiel und der Selbstentdeckung zu trüben.
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