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Liechtensteins Regierungschef im Interview
«Unter dem Radar zu fliegen, mag eine Strategie sein – aber keine für uns und die Schweiz»

Daniel Risch, Regierungschef des Fürstentums Liechtenstein, steht auf einem Platz vor historischen Gebäuden und einem modernen Holzbau, 1. April 2025. Foto von Moritz Hager/Tamedia AG.
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Daniel Risch geht mit einem Berater über den Platz vor dem Regierungsgebäude in Vaduz. Ein amerikanischer Tourist fragt auf Englisch: «Ist dies das Regierungsgebäude?» Der Berater antwortet: «Ja, und das ist der Premierminister.» Der Tourist ist begeistert, macht ein Selfie, und sagt zu seiner Frau: «Only in Liechtenstein!»

Unser kleinster Nachbar hat viel mit der Schweiz gemeinsam. Und wegen der Zollunion müssen die beiden Staaten auch gemeinsam auf Trumps Zölle reagieren. Daniel Risch, der nach vier Jahren als Regierungspräsident abtritt, sagt im Interview, wie sich Kleinstaaten positionieren sollten – in einer Welt, in der sich Grossmächte wieder allmächtig fühlen.

Wie sollten Liechtenstein und die Schweiz auf die neuste Handelskriegs-Offensive von Donald Trump reagieren?

Jedenfalls nicht mit Gegenmassnahmen, weil diese aufgrund des Grössenunterschieds ohnehin wenig bewirken würden. Grundsätzlich sind die Gesprächskanäle mit den USA – sowohl für die Schweiz als auch für Liechtenstein – offen, und man muss sehen, dass die guten und intensiven wirtschaftlichen Beziehungen vor dem Hintergrund der jüngsten Entscheide weitergeführt werden können. Liechtensteinische Unternehmen beschäftigen zum Beispiel über 7000 Arbeitnehmer in den USA. Das ist bezogen auf unsere Einwohnerzahl von 40’000 Personen ein absoluter Spitzenwert. Aber solche Überlegungen sind in der jüngst publizierten Zollliste nicht enthalten.

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter sagte am Donnerstag, sie habe nach dem Entscheid der Trump-Administration mit der EU-Kommissions-Präsidentin und mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Was hat dieser Austausch ergeben?

Aufgrund des über 100-jährigen Zollvertrags ist für uns der Austausch und die Abstimmung mit der Schweiz und insbesondere dem Bundesrat natürlich sehr wichtig. Wir konnten uns über die gemeinsame Stossrichtung austauschen. An den im April anstehenden Frühlingstreffen des Internationalen Währungsfonds in Washington werden die Schweiz und Liechtenstein anwesend sein und Gespräche führen können. Da ist eine enge Abstimmung in jedem Fall sinnvoll.

Die USA sind für Liechtenstein nach der Schweiz und Deutschland der wichtigste Handelspartner. Haben Sie überhaupt Verhandlungsmacht?

«Verhandlungsmacht» ist vermutlich das falsche Wort. Ich würde eher von «guten Argumenten» sprechen. Und die liechtensteinischen Unternehmen schicken natürlich nicht alle Produkte von Liechtenstein nach Amerika, sondern viele Firmen haben auch Niederlassungen direkt in den USA oder in Mexiko und investieren vor Ort. Die liechtensteinische Wirtschaft ist da in vielen Bereichen ähnlich aufgestellt wie die Schweizer Wirtschaft.

Donald Trump sagte kürzlich auch, die USA «müssten» Grönland haben. Was denken Sie als Regierungschef eines Kleinstaats ohne Armee, wenn Sie solche Worte hören?

Da zieht es mir alles zusammen in der Magengegend. Für uns als souveräner Staat sind die internationale Ordnung, Rechtsstaatlichkeit und die territoriale Integrität von Staaten elementar. Auch was den Ukraine-Krieg betrifft, beschäftigen uns diese Themen – neben dem menschlichen Leid – am stärksten. Es kann nicht sein, dass 2025 wieder einfach das Recht des Stärkeren gilt.

Daniel Risch, Regierungschef des Fürstentums Liechtenstein, steht lächelnd vor einem historischen Gebäude. Foto aufgenommen von Moritz Hager am 1. April 2025.

Wie ist es, derzeit in einem Land ohne Armee zu leben?

Wir tun das schon seit über 150 Jahren – also auch während der beiden Weltkriege, und ich glaube, dass es für uns auch heute nicht viel anders wäre, wenn wir eine Armee hätten. Unser Land hat 160 Quadratkilometer und 40’000 Einwohner. Wenn wir auch ein paar Panzer und Leute hätten, die diese bedienen würden, könnten wir uns in einem traditionell geführten Krieg trotzdem nicht langfristig verteidigen.

Das heisst, Liechtenstein verlässt sich auch künftig auf den Schutz durch andere?

Wir haben etwa im Bereich der Cybersicherheit selbst viel investiert. Da herrscht heute schon gewissermassen Krieg, da wir wie alle anderen Staaten regelmässig angegriffen werden und uns verteidigen. Zurzeit überlegen wir im Rahmen einer überarbeiteten Sicherheitsstrategie, wo wir Partnerschaften intensivieren und selbst einen Beitrag leisten können. Es ist nicht unsere Haltung, dass wir uns verstecken und nur profitieren wollen.

Käme eine engere Kooperation mit der Schweiz im Bereich Sicherheit für Sie infrage?

Es gibt in verschiedenen Bereichen wie dem Bevölkerungsschutz oder der Cybersicherheit schon heute eine sehr enge Zusammenarbeit. Und natürlich sind wir offen, mit der Schweiz weitere Gespräche zu führen.

Der Schweiz werfen manche Leute vor, eine Trittbrettfahrerin der Nato zu sein. Das gilt doch für Liechtenstein erst recht.

Nur weil wir keine Armee haben, heisst das ja nicht, dass Sicherheit und Zusammenarbeit in den verschiedenen Aspekten für uns nicht sehr zentral sind. Zur Sicherheitsarchitektur gehört neben bilateralen Beziehungen natürlich auch, dass wir in vielen internationalen Organisationen mehr leisten und leisten wollen, als man von uns aufgrund unserer Grösse erwarten würde. Wir sind dort, wo wir Mitglied sind, sehr aktiv. Ob bald die Forderung kommt, dass wir uns da oder dort stärker beteiligen, kann ich nicht sagen. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass jedes Land aufgrund seiner Stärken und Möglichkeiten einen Beitrag in der Staatengemeinschaft leisten soll – humanitär, personell, konzeptionell und auch finanziell.

Hat Europa die Schockstarre über die – mindestens teilweise – Abwendung der USA überwunden?

Als Schockstarre würde ich das nicht bezeichnen. Es gibt viel Bewegung innerhalb von Europa. Schon in den letzten Jahren hat man gemerkt, dass Europa sich neu finden muss. Die European Political Community – das halbjährliche Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs – entstand aus dem Bewusstsein, dass die heutige Zeit gesamteuropäische Antworten erfordert.

Daniel Risch, Regierungschef von Liechtenstein, in einem Büro sitzend und gestikulierend, 1. April 2025. Im Hintergrund die Flagge von Liechtenstein und ein Schrank. Foto von Moritz Hager/Tamedia AG.

Manche sagen, man solle nicht überreagieren, die USA würden auch unter Trump Partner Europas bleiben. Sehen Sie das auch so?

Ja. Amerika ist und war immer mehr als der gerade amtierende Präsident. Dieser hat zwar massgebliche Rechte und kann sehr viel in kurzer Zeit bewegen. Die Frage ist aber auch, wie viele der angekündigten Entscheide in welcher Form umgesetzt werden. Ich finde vor allem, wir sollten nicht nur nach Amerika schauen und abwarten, was geschieht, sondern den Fokus mehr auf Europa und seine Stärken legen. Europa kann mit seinen Stärken – die es neben allen Schwächen auch gibt – selbstbewusster umgehen.

Bei der Verteidigung stehen die meisten Staaten schlecht da, und das Wirtschaftswachstum ist vielerorts bescheiden. Welche Stärken meinen Sie?

Schauen wir uns rasch das Handelsbilanzdefizit mit den USA an. Dieses hat ja – vor dem Hintergrund einer gewissen Missinterpretation – in den letzten Tagen zur Ankündigung von US-Zöllen geführt. Dieses US-Handelsfinanzdefizit im Warenbereich mit der EU, der Schweiz oder auch Liechtenstein zeigt auf eindrückliche Weise, wie stark in Europa produzierte Waren ganz offensichtlich nachgefragt werden. Diese Stärke lässt sich nicht einfach wegdiskutieren – aber sie muss mit guten Rahmenbedingungen erhalten beziehungsweise weiter ausgebaut werden. Oder nehmen wir den Techbereich. Da ist immer und gerne vom Silicon Valley die Rede. Aber es gibt eine ganze Reihe europäischer Techlösungen, die sehr viel zu bieten haben.

Sie sassen in den letzten Monaten bei zahlreichen Verhandlungen europäischer Staaten mit am Tisch. Wie geht das intern zu und her?

Bei formellen Treffen auf internationaler Ebene hat oft jeder Teilnehmer drei oder fünf Minuten Zeit, um ein vorbereitetes Statement zu verlesen. Diese Treffen müssen zwar stattfinden, sie sind aus meiner Sicht oft nicht besonders ergiebig. Umso wichtiger ist der informelle Austausch in den Pausen oder eben in informellen Gremien wie der European Political Community.

Wie muss man sich den vorstellen?

Da sind nur Regierungschefs oder Präsidenten zugelassen, und man kann sich auch nicht vertreten lassen. Am ersten Treffen sass ich beispielsweise zwischen Mario Draghi und Olaf Scholz. Die EU-Regierungschefs hatten am nächsten Tag ein EU-internes Treffen und sagten ständig: «Das besprechen wir dann morgen.» Irgendwann habe ich darauf hingewiesen, dass heute alle 46 europäischen Länder am Tisch sitzen und wir wichtige europäische Themen jetzt gemeinsam besprechen sollten. Die EU mag das Herz Europas sein, die Seele, die Wirtschaft und die Wertegemeinschaft, geht aber weit über die 27 EU-Staaten hinaus. Diese Botschaft ist mir wichtig. Wenn man in Europa grösser denken will, kann man Grossbritannien, die Schweiz, Norwegen und andere starke Staaten ausserhalb der EU – die aus unterschiedlichen Gründen gar nicht in die EU wollen – nicht aussen vor lassen.

Braucht es aus Ihrer Sicht in der aktuellen Situation Leaderstaaten in Europa – und falls ja: Welche sehen Sie in dieser Rolle?

Unbedingt. Europa braucht ein starkes Deutschland, ein starkes Frankreich und idealerweise ein starkes Grossbritannien. Das reflektiert die Nachkriegsordnung. Daneben übernehmen auch die skandinavischen und baltischen Staaten, Polen, Tschechien und Italien eine ganz wichtige Rolle. Giorgia Meloni hat beispielsweise einen Draht zu Donald Trump. Das muss man nützen. Es muss nicht für alle Bereiche derselbe Staat die Führung übernehmen. Aber ich bin überzeugt, dass jeder Staat – ähnlich wie in einem Sportteam – nach seinen Stärken und Fähigkeiten einen Beitrag leisten kann und soll.

Daniel Risch, Regierungschef Liechtenstein, in einem Büro im Gespräch, mit Flagge von Liechtenstein im Hintergrund, 1. April 2025.

Positioniert sich Liechtenstein noch immer klar auf der Seite der Ukraine? Oder finden Sie, es ist Zeit, einen Schritt auf Russland zuzugehen, wie es die USA derzeit tun?

Für uns war immer klar: Wir stehen auf der Seite der Ukraine. Wir haben die Sanktionen gegen Russland sehr rasch autonom übernommen. Die Ukraine steht für mich aber nicht nur für ein Land und einen furchtbaren Krieg – sondern für die internationale Ordnung, Menschenrechte und territoriale Integrität. Ich bin felsenfest überzeugt, dass das, was wir in der Ukraine sehen, nicht das ist, auf was wir uns alle gemeinsam in der UNO-Charta verständigt haben.

Wie sehen Sie die Schweiz?

Ich habe in meinem Leben fast gleich viel Zeit in der Schweiz verbracht wie in Liechtenstein, weil ich dort studiert, gearbeitet und gelebt habe. Ich mag die Schweiz sehr, und meine Schweizer Grossmutter ist in Celerina aufgewachsen. Politisch sehe ich viel Positives im Föderalismus: Es geht vielleicht manchmal etwas langsamer, dafür hält es danach besser.

Ist diese Langsamkeit in der aktuellen Situation nicht ein Nachteil?

Ich glaube, wir sehen in der Schweiz im Kleinen, was wir in Europa im Grossen sehen. Auch dort gibt es nicht nur einen Präsidenten, der sagen kann: So ist es jetzt. Man muss sich ständig abstimmen. Ich bin überzeugt, dass dies langfristig tragfähigere und bessere Lösungen hervorbringt, als wenn man vier Jahre in eine Richtung geht und dann wieder vier Jahre in die andere.

Welche vermeintlichen Gewissheiten mussten Sie in den letzten vier Jahren über Bord werfen?

Es begann schon vor mehr als vier Jahren, als ich noch Wirtschaftsminister war in der Coronakrise. In unserem liberalen Land wollten wir eigentlich überhaupt nicht in die Wirtschaft eingreifen – weder mit Schliessungen noch mit Unterstützungspaketen. Aber es war aufgrund der Pandemie nötig. Wir sahen auch die Energiekrise und den Ukraine-Krieg so nicht kommen und waren noch 2018 der festen Überzeugung, einen traditionellen Krieg in Europa wird es nicht mehr geben. Derzeit definieren die USA die Geografie per Dekret neu, und es werden Besitzansprüche für andere Länder gestellt. Vor zehn Jahren hätte ich gesagt: Das passiert nur in einem schlechten Film.

Haben unabhängige Kleinstaaten überhaupt eine Zukunft in einer von Machtpolitik dominierten Welt?

Es gibt viele Leute, die sagen: «Wir sind neutral und unabhängig und souverän.» Und so fühlt man sich ja auch. Aber unabhängig sind wir alle nicht. Im Gegenteil: Wir sind massiv abhängig von allem, was um uns herum passiert. Das gilt nicht nur für Liechtenstein, sondern auch für die Schweiz. Die Frage ist also vielmehr: Wie organisieren wir unsere Abhängigkeit? Meine Antwort darauf ist: Ich war schon immer ein überzeugter Europäer. Und Europa lebt gerade auch von der Verschiedenheit, von grossen und kleinen Staaten mit einer reichen Tradition und Vergangenheit und einer guten Zukunft. Davon bin ich überzeugt. Um zu erfahren, wie diese Zukunft – trotz aller Krisen – aussehen kann, haben wir im letzten Jahr im Rahmen unseres Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarats das «Book of Europe»-Projekt gestartet, in dem Regierungschefs und hohe Vertreter aus 33 Ländern ihre Vision von Europa darlegen.

Ist es in der aktuellen Situation die richtige Strategie, unter dem Radar fliegen zu wollen und zu versuchen, sich mit allen gut zu stellen?

Das mag eine Strategie sein, aber keine für Liechtenstein oder die Schweiz. Ich persönlich finde, es gibt Situationen, wo man aufstehen und etwas sagen muss, auch wenn man nicht die lauteste Stimme oder das grösste Gewicht hat. Ja, damit exponiert man sich. Aber wenn jedem alles egal wäre, würde sich niemand mehr für die Gemeinschaft einsetzen. Und genau dieser Einsatz ist der Kern der Politik, in unseren Ländern und in der internationalen Gemeinschaft.