Lesende fragen Peter SchneiderIst naiv, wer an das Gute im Menschen glaubt?
Unser Kolumnist beantwortet eine Leserfrage nach dem Sinn, jedem Mitmenschen mit Wohlwollen zu begegnen.
Ich wurde erzogen, bei allen Menschen, auch denjenigen, die ich nicht mochte (Klassenkameraden, Lehrerinnen und so weiter), immer auch das Gute zu sehen. Mit den Jahren – ich bin nun am Lebensabend angekommen – muss ich feststellen, dass es offenbar halt auch abgrundtief böse Menschen gibt. So geboren oder so geworden, das weiss ich nicht. Ich kann und will das nicht wahrhaben, aber es scheint so zu sein. Bin ich naiv, wenn ich weiterhin an das Gute im Menschen glaube? B.N.
Lieber Herr N.
Das Gute oder das Böse im Menschen sind keine Teile des Körpers wie die Zirbeldrüse oder die Leber. Sätze wie «Eigentlich ist der Mensch gut» oder «Seiner Natur nach ist der Mensch böse» sind blosse Behauptungen, die nichts über das Wesen des Menschen aussagen, sondern eine Pseudo-Anthropologie, die dazu dient, eine bestimmte Weltsicht als gleichsam überhistorische Wahrheit in Stein zu meisseln.
Aussagen, die mit «Immer schon hat der Mensch …» beginnen, sind mit Sicherheit in die Vergangenheit projizierte gegenwärtige Ideologie. Wenn «der» Mensch etwas ist, dann allenfalls sehr variantenreich und flexibel – im Guten wie im Bösen. Sie können also gerne weiter an das Gute im Menschen glauben, ohne naiv zu sein. Ausserdem sind die Kategorien «gut» und «böse» wahrscheinlich ohnehin zu gross, als dass sie alltagstauglich sind.
Das Wohlwollen, das wir jemand anderem entgegenbringen, bleibt in der Regel nicht ohne Wirkung.
Man trifft in der Wirklichkeit unterschiedliche Menschen, die in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeitpunkten auch sehr unterschiedlich sein können. Meistens begegnen wir lediglich Menschen, die freundlich oder unfreundlich sind, gedankenlos oder rücksichtsvoll, empathisch oder stur, arrogant oder zugewandt – und zwar oft nicht durchwegs, sondern mal so und mal anders. Man hat also wenig Grund, sich auf eine einzige Sichtweise «des» Menschen festzulegen. «Habe keine zu künstliche Idee vom Menschen, sondern urteile natürlich von ihm, halt ihn weder für zu gut noch zu böse.» (Lichtenberg)
Eher an das Gute im Menschen (was immer genau man darunter verstehen will) zu glauben (statt an seine grundsätzliche und abgrundtiefe Bösartigkeit) hat immerhin einen grossen Vorteil: Es erspart einem viel überflüssiges Misstrauen. Das Leben wird einem auf diese Art leichter, als wenn man davon ausgeht, dass der Mensch immer und überall des Menschen Wolf ist. Manchmal ist er es durchaus; manche Menschen sind unbelehrbare Arschlöcher. Viele aber auch nicht.
Grundsätzliches Misstrauen ist nicht so realistisch, wie es tut. Last, but not least: Das Wohlwollen, das wir jemand anderem entgegenbringen, bleibt in der Regel nicht ohne Wirkung. Die Freundlichkeit des anderen uns gegenüber ist nicht unabhängig von der Freundlichkeit, mit der wir ihm begegnen.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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