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Lesende fragen Peter Schneider
Bin ich meinen Eltern etwas schuldig?

Wo sind die Grenzen, meine wie die der anderen? Familientisch mit mehreren Generationen.
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Mein halbes Leben höre ich meine verinnerlichten Eltern mit den ausgesprochenen und unausgesprochenen Erwartungen und Ansprüchen. Ich fühle mich nach wie vor sehr verbunden. Mein grosses Thema ist in dieser Situation «Loslassen», gleichzeitig aber auch Bedürfnisse anzusprechen, möglichst ohne Druck auszuüben. Wo sind die Grenzen, meine wie die aller anderen? Bin ich meinen Eltern etwas schuldig? Darf ich von meinen Kindern dasselbe erwarten? S. R.

Liebe Frau R.

«Erwartungshaltung» ist das Pfui-Wort der Alltagspsychologie. Man sollte keine haben. Stattdessen sollte man lernen, «loszulassen» und sich «abzugrenzen». Wahrlich, ich aber sage euch: Wer immer nur loslässt, steht mit leeren Händen da; und wer stets nur sich abgrenzt, bastelt an seinem privaten Nordkorea.

Ich übertreibe selbstverständlich; und darum noch mal sachlich. Ich glaube tatsächlich, dass es so etwas wie eine «Schuldigkeit» gegenüber den Eltern gibt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wer sich gegenüber seinen Kindern immer wie ein Arschloch verhalten hat, verdient nichts. Desgleichen gilt umgekehrt. Aber wir wollen ja hier nicht über die Ausnahmen sprechen, sondern über das breite Spektrum des Gewöhnlichen. Dass nicht nur Kinder zu Recht etwas von den Eltern erwarten, sondern auch Eltern von ihren Kindern (wie gesagt, das jeweilige Mass ist stets diskutabel), ist eigentlich keine besonders rätselhafte Angelegenheit.

Man lebt mit und unter vielen Voraussetzungen, die man sich nicht ausgesucht hat.

Der Satz «Man hat mich ja nicht gefragt, ob ich geboren werden möchte», mit dem manche Menschen solche Ansprüche abwehren wollen, ist nur eine dumme Ausrede, mit der man sich ebenso gut der allgemeinen Schul- oder Steuerpflicht entziehen könnte beziehungsweise es eben nicht kann. Man lebt mit und unter vielen Voraussetzungen, die man sich nicht ausgesucht hat. Man kann sich natürlich fragen, ob es besondere Verpflichtungen zwischen Eltern und Kindern, Kindern und Eltern gibt.

Die gibt es, aber sie sind nicht wesentlich moralischer, sondern sozialer Natur. Blut ist dicker als Wasser, heisst es. Nimmt man diese Aussage nicht im Sinne einer verqueren Blut- und Abstimmungsmystik, sondern ihrem rationalen Gehalt nach, so bedeutet sie nichts anderes als: Wo die Familie eine wichtige gesellschaftliche Organisationseinheit darstellt (etwa in unserer Kultur), sind Familienbeziehungen besonders stark und daher auch durch starke informelle Erwartungen geprägt.

Wo sich die Familienbande lockern, lockern sich auch diese Erwartungen; in Patchworkfamilien zum Beispiel überschneiden und ergänzen sie sich und kommen sich vielleicht auch in die Quere. Familienkonzepte ändern sich und damit die Erwartungen. Eine erwartungsfreie Gesellschaft hingegen ist ein Widerspruch in sich.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.