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Leseboom unter jungen Frauen
Süchtig nach Happy End

CULVER CITY, CA - May 25: Leah Koch of "The Ripped Bodice" which sells only romance novels is never too far from Fabio. (Photo by David Crane/MediaNews Group/Los Angeles Daily News via Getty Images)
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Los ging es mit der Präsidententochter und dem tätowierten Bodyguard. Hier die Sicherheit des ganzen Landes, da diese langen Beine. Unfassbar süsse Geschichte. Vor zehn Jahren hatte Amanda das Buch «Saving Liberty» zufällig in die Hand genommen, kurz darauf verschwand die Welt. Für ein paar Stunden versank sie zwischen dem Weissen Haus und dem stählernen Sixpack des Bodyguards. Seitdem habe sie diese «Obsession». Seitdem führt sie Listen. Seitdem liest sie mehr als hundert Bücher im Jahr.

Will man verstehen, was da gerade in den Zimmern Tausender junger Frauen vor sich geht, warum ein Buch in wenigen Tagen in den Vereinigten Staaten vergriffen war, warum Frauen für einen bestimmten Buchladen über Landesgrenzen reisen, muss man dahin, wo der Maschendraht zwischen Unterhaltung und Kunst ein bisschen lockerer geflochten ist als in der Schweiz. Ab nach New York, in die Fifth Avenue in Brooklyn. In einen Buchladen namens The Ripped Bodice.

Einsame Gräfinnen, erfolgreiche Gross­städterinnen, Vampirsex, ein schwuler britischer Kronprinz.

Die Autorinnen-Diskussion mit anschliessender Autogrammstunde ist ausverkauft. Diejenigen, die früh kamen, fächern sich auf den Stühlen Luft zu, die anderen der mehr als hundert jungen Frauen stehen bis zur Kasse am Eingang, recken die Hälse. Sie hätten die Bücher einfach bestellen können, sie hätten sie in wenigen Klicks auf ihren E-Reader laden können. Sie hätten sich ein Autogramm per Post holen können. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, unter den herzförmigen Glühbirnen zu sitzen. Die Bücher im Rücken, die man verschlungen hat, bei denen man gelacht, geweint, über die man stundenlang diskutiert hat. Einsame Gräfinnen, erfolgreiche Grossstädterinnen, Vampirsex, ein schwuler britischer Kronprinz.

Kommt nicht so oft vor, dass die Gegenwart dem Weltverdruss etwas entgegenzusetzen hat. Aber trotz allgemeinem Zeitungsgedüster entdeckt gerade eine Generation weltweit ihre Leidenschaft für Bücher. Freundinnen gründen Buchklubs, teilen Videos von sich, heulend beim Lesen, lassen sich Tattoos stechen. An diesem Nachmittag zeigt eine junge Frau ihren Oberarm, darauf der letzte Satz ihres Lieblingsromans: «Sie blättert trotzdem um.»

Eine junge Frau zeigt im Buchladen The Ripped Bodice in Brooklyn, NY, ihr Tattoo. "She turns the page anyway".

Während es bei allen anderen Genres immer schlechter läuft, stieg im letzten Jahr in den USA der Verkauf von Liebesromanen, auf Englisch Romance, um mehr als 52 Prozent. Wie die «New York Times» in einem Porträt über Colleen Hoover bemerkte, verkauften sich deren Romane im letzten Jahr in den USA öfter als die Bibel. Und nein, die Käuferinnen sind nicht nur Hausfrauen, sondern junge, gebildete Frauen der Generation Z. Und bevor gleich die Hochkultur mit den Augen rollt, muss man festhalten: Bücher wie die von Emily Henry, die sich mehr als 2,4 Millionen Mal verkauften, gefallen. Tausende subjektive Geschmacksurteile, die sagen: Toll, genau das wollen wir. Nur, was fasziniert so an diesen Geschichten?

«Ganz ehrlich: Es explodiert. Liebesromane übernehmen gerade komplett», sagt eine junge Frau, die nur Amanda genannt werden will, und zieht die Bücher in ihren Armen an die Brust. Aus einem, dass sie von zu Hause mitgebracht hat, ragen Dutzende bunter Post-its, als hätte sie eine wissenschaftliche Arbeit durchkämmt. Sie ist 24 und arbeitet als Erzieherin im Kindergarten, ihre ältere Schwester Nikki neben ihr strahlt, sie leitet eine Baufirma.

Die beiden drücken sich am Eingang herum, warten, bis sie an der Reihe sind bei der Autogrammstunde nach dem Autorinnengespräch. «Nummer 40 bis 60», brüllt jemand. Amanda zieht einen Zettel raus mit der Nummer 109 und sagt zur Schwester: «Wir werden einfach die Allerletzten sein.»

«Die sind nicht wie die Männer im echten Leben. Frauen haben sie geschrieben, das ist das Fantastische.»

Amanda, Leserin

Beide lesen an die hundert Bücher im Jahr, aber niemals eines, in dem es nicht um Liebe geht. Eine Haltung, die eine junge Frau an diesem Nachmittag so auf den Punkt bringt: «Wenn sich niemand küsst – was soll das?»

Ja, was soll das? Waren Liebesromane nicht nach bestimmten Schemata gebaute Kitschwelten, in denen sich errötete Wangen an Robert-Redford-breite Schultern schmiegten? Ja und nein. Immerhin zählen zu Romance-Klassikern auch die Bücher von Jane Austen oder Charlotte Brontës «Jane Eyre». Damit ein Buch als Romance durchgeht, gibt es eine Regel: Es muss ein Happy End geben.

Kundinnen (nicht näher benannt) im Buchladen The Ripped Bodice, Brooklyn NY.

Was Menschen in Büchern suchen? Irgendeine Wahrheit übers Leben, jemanden, der ihnen sagt, was richtig ist und wie LSD schmeckt. Einen Sinn. Sich selbst. Dieses Gefühl, das sie im Mai 1987 hatten. Andere kaputte Familien. Kluge Gedanken. Den neuen Büchner-Preisträger, einen Gesprächspartner, der mehr erzählt als der, den man geheiratet hat. Das Meer. Schönheit. Hohe Kunst. Unterhaltung. Was aber suchen die jungen Frauen in all den Büchern über die Liebe?

«Die Männer», sagt Amanda, «die sind nicht wie die Männer im echten Leben. Frauen haben sie geschrieben, das ist das Fantastische.» Ihre absolute Lieblingsautorin heisse Rebecca Yarros, sagt Nikki. «Bestes Buch dieses Jahr», sagt ihre Schwester. Wieder einer dieser irren Superlative. Rebecca Yarros veröffentlichte im Mai dieses Jahres «Fourth Wing – Flammengeküsst», innerhalb von wenigen Wochen war das Buch in den USA ausverkauft, keine Restbestände. Legenden, Videos, Fotos des Buchs rauschten durch die sozialen Medien. Amanda fuhr zum Flughafen, um zu schauen, ob es dort noch ein Exemplar gibt. Umsonst. Die Schwestern riefen Verwandte in Kanada an, aber auch in Kanada standen sie vor lachenden Buchhändlern: Sie seien die Fünfzigsten, die heute aufkreuzten.

Man will jetzt keine Euphoriebremse sein, aber was macht dieses Buch denn so toll? Die Schwestern schauen sich kurz an. «Gute Frage», sagt Nikki. Dann sagt Amanda: «Es hat ein bisschen was von allem. Es hat Drachen. Und es hat Romantik.»

Als «Frauenliteratur» lässt sich das nicht mehr wegschnauben

Diese Geschichten mit Happy End, Erotik und typischen Erzählmustern – «Huch, nur ein Bett», «Im Aufzug feststecken», «Ehe aus angeblich praktischen Gründen», «Alte Freunde, die sich verlieben» – haben offenbar eine Kraft. Sie stricken eine riesige, flauschige Landefläche. Nikki und ihre Kolleginnen in der Baufirma lesen die gleichen Bücher, um bei der Arbeit drüber reden zu können, über Werte wie Vertrauen zum Beispiel, sagt sie. «Heute hängen alle am Handy, wir haben kaum noch richtige Gespräche. Aber durch die Romane haben wir wieder etwas, worüber wir miteinander diskutieren können.»

Es sind dieselben jungen Menschen, die auf Dating-Apps über den Screen swipen, jeder Wisch eine Möglichkeit der grossen Liebe, die mit Einsamkeit, Depressionen und den Folgen der Pandemie und des Klimawandels kämpfen. Die in einer Welt aufwachsen, der der Historiker Adam Tooze eine «Polykrise» bescheinigt. Diese jungen Menschen wollen Liebesgeschichten.

Der Roman als Ort zum Abtauchen, um sich miteinander zu verbinden, weil man eine gemeinsame Erfahrung, das Lesen eines Buchs, teilt. Gesprächsstoff. Am Ende von Emily Henrys Bestseller «Book Lovers» stehen etwa Diskussionsfragen wie: «Hast du dich jemals so gefühlt, als hätten verschiedene Orte verschiedene Teile deiner Persönlichkeit hervorgebracht?»

Klar ist: Die Interessen der Konsumentinnen lassen sich nicht mehr ignorieren. Yes, it’s capitalism, stupid.

Liebesromane sind ein Genre, das seit Jahrhunderten belächelt wird, das man auf kaum einer Kanonliste findet, ein Genre, in dem Autorinnen als «Flutschliteratinnen» verrissen werden. Schmonzetten, die man mit der Frage «Ist das nicht dieses ‹50 Shades of Grey›» zur «Trivialliteratur» schiebt. Aber drückte man noch in den Neunziger- und den Nullerjahren «Bridget Jones» oder die «Sex and the City»-Bücher als «Chick Lit», also leichte Frauenliteratur, weg, lässt sich dieses Phänomen im Jahr 2023 nicht mehr wegschnauben. Mit #booktok hat sich auf Tiktok ein marktbestimmender Hashtag gebildet, unter dem junge Menschen diskutieren, sich beim Lesen oder Weinen filmen. Und damit, ungeachtet etablierter Qualitätssiegel, bislang unbekannte Autorinnen in Bestsellerlisten katapultieren.

Das Leiden gehört zur Literatur

Der Film «Barbie» brach gerade alle Rekorde an den Kinokassen. Und Taylor Swifts «Eras»-Tour erzeugte diesen Sommer im tatsächlichen wie im übertragenen Sinn ein Erdbeben, das der Sänger Billy Joel mit der «Beatlemania» verglich. Klar ist: Die Interessen der Konsumentinnen lassen sich nicht mehr ignorieren. Yes, it’s capitalism, stupid.

In zeitgenössischen Liebesromanen tauchen durchaus auch Themen wie Rassismus, Diversität und Feminismus auf. Man findet moderne Grossstadt-Soziologie, Protagonisten leben mit Krankheiten, Eltern sterben. Doch während andere Romane sich auf den Schmerz, die Gebrochenheit konzentrieren, landen die Figuren in Liebesromanen wolkenweich.

Gott, ist das alles lächerlich, peinlich, grauenhaft, so ist man doch nicht. Aber doch: Genau so ist man. «Leiden und Schmerz sind mehr wert als Glück in unserer Gesellschaft», sagt Mitbegründerin Leah Koch jetzt im The Ripped Bodice. «Leid macht dich zu einer ernsten, tieferen Persönlichkeit.» Die interessantesten Charaktere der Literaturgeschichte – alle haben sie gelitten. Schmerz gehörte immer zu den grossen Werken, zum Werther, zu Hesses Steppenwolf, zu Bölls traurigem Clown, zu Fitzgeralds Gatsby. So ist das eben? «Liebe ohne Leiden», wie es Udo Jürgens seiner Tochter wünschte, die gibt es nicht mal im deutschen Schlager wirklich. Aber wären Gatsby und Daisy am Ende zusammengeblieben – wäre der Roman weniger grossartig?

«Liebesromane sind das Genre von Hoffnung und Freude. Und das wird Leute immer ansprechen.»

Leah Koch, Buchhändlerin

Eine der grossen Kräfte der Kunst ist es ja auch, zu trösten. Zu zeigen, schau, die zwei stellen sich genauso bescheuert an. Für einen Moment Chaos, Schmerz und Totschlag vergessen zu lassen. Und stattdessen einfach eine schöne Geschichte zu erzählen, wohltuend wie eine Tasse heisse Milch mit Honig.

«Liebesromane sind das Genre von Hoffnung und Freude. Und das wird Leute immer ansprechen», sagt Leah Koch. Sie sagt «Leute». Im Stillen denkt man: «Frauen.» Nein, damit gewinnt man keine Nobelpreise. Aber am Ende ist die Frage, was all diese jungen Menschen in Büchern suchen, gar nicht so kompliziert. Sie wollen für ein paar Stunden glücklich sein. Wie alle verliebten Idioten auf dieser Welt.