Literaturnobelpreis für Jon FosseIn seinen Romanen begegnet er sich selbst
Wenn er schreibt, ist der norwegische Nobelpreisträger Jon Fosse in vielen Dimensionen unterwegs. Sein biografischer Schlüsselmoment: ein Unfall, der ihn fast das Leben gekostet hätte.
In Jon Fosses siebenteiliger, aus einem einzigen Satz bestehender Romanreihe «Der andere Name» gibt es eine Szene, in der der Icherzähler, der norwegische Maler Asle, in seiner Wohnung sitzt und sich fragt, woran er erkennt, dass ein Bild fertig ist.
Er wohnt allein in einem abgelegenen Nest in der norwegischen Provinz, malt tagein, tagaus an seinen abstrakten Gemälden, und alle paar Monate fährt er sie nach Bergen zu seinem Galeristen. Asle stellt in seiner Wohnung eine leere Leinwand auf und hat gerade zwei Pinselstriche gesetzt, als ihm diese Frage in den Sinn kommt und er zum Nachdenken eine Pause einlegt.
In dem Moment klingelt ein Freund an der Tür, um ihn abzuholen, und im Auto fragt er ihn, woran er gerade arbeite. Asle aber hasst es, über Gemälde zu sprechen, die noch nicht fertig sind, weil sie dadurch, dass sie in Sprache kanalisiert werden, den Bereich der monastischen Innerlichkeit, das transzendente Zwiegespräch mit dem Allumfassenden verlassen und zu einem sozialen und damit unweigerlich profanen Gegenstand werden.
Bei einem Unfall hat er sich einst selbst betrachtet, ein friedlicher Moment
Dieses Dilemma macht den Erzähler wirklich fertig, weil er einerseits seinem Freund gegenüber nicht unfreundlich sein will, andererseits aber die Integrität seines künstlerischen Prozesses nicht verletzen möchte, und er denkt hin und her, und am Ende löst er das Problem so, dass er das Bild, das bislang nur aus zwei Pinselstrichen besteht, für fertig erklärt, um darüber sprechen zu können. Mit dieser Szene, einer kunsttheoretischen Mise-en-abyme, ist auch die Ästhetik des norwegischen Romanschriftstellers und frisch gekürten Literaturnobelpreisträgers Jon Fosse gut illustriert.
Die Versuchung ist gross, die Heptalogie «Der andere Name» autobiografisch zu lesen, schliesslich ist der Icherzähler wie sein Autor Katholik, Künstler und rekonvaleszenter Alkoholiker, und schliesslich sieht die Gegend, in der Asle lebt, ziemlich genauso aus wie Jon Fosses Geburtsort Strandebarm, ein winziges Dorf im Hardangerfjord, dem zweitgrössten Fjord Norwegens. Und schliesslich gilt Jon Fosse als literarischer Lehrer Karl Ove Knausgårds.
Trotzdem würde man weit danebenzielen, schon weil es in Jon Fosses Kunstphilosophie ein Subjekt, das sich literarisch ausdrücken könnte, streng genommen gar nicht gibt. In einem Interview mit der «Los Angeles Review of Books» hat Fosse einmal gesagt, dass es ihm beim Schreiben darum gehe, in ein Universum hineinzuhorchen, das von seinem eigenen verschieden sei, und in dieses Universum zu entkommen: «Ich möchte mich selbst loswerden, nicht mich ausdrücken.»
Neben Jacques Derrida ist Fosse vor allem von dem mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart beeinflusst, dessen undogmatische, fast meditative, auf das religiöse Erleben des Einzelnen ausgerichtete Lehre dem nicht völlig unähnlich ist, was heute auch in kalifornischen Ayahuasca-Retreats gelehrt wird, wenn es darum geht, sich von seinem Selbst zu entbinden.
Als biografischen Schlüsselmoment nannte Fosse einmal einen Unfall, den er als siebenjähriger Junge erlitten hat. Dieser Unfall habe ihn fast das Leben gekostet, und er erinnert sich an diese Nahtoderfahrung als einen sehr friedlichen, federleichten Moment, in dem er sich selbst von aussen gesehen habe, in einem schimmernden Licht. Diese Selbstverdopplung und die Erfahrung, in zwei Dimensionen gleichzeitig präsent zu sein, ist in seiner Heptalogie konstitutiv.
Szenen ziehen sich Seite um Seite
Der Maler Asle befindet sich dort in einem inneren Gespräch mit einem engen Freund, der ebenfalls ein Maler namens Asle ist und den er einmal auf dem Weg zu seinem Galeristen aufsuchen möchte, aber er macht nicht auf, und deshalb geht Asle, während es in der norwegischen Dunkelheit in dicken Flocken zu schneien anfängt, ins Wirtshaus Zum Letzten Boot, wo es billiges Essen und billigen Schnaps gibt, weil er Asle dort vermutet. Auf dem Weg dorthin findet er eine Gestalt, die bewusstlos auf einer Treppe liegt und die schon halb zugeschneit ist, er stellt fest, dass es sich um seinen Freund Asle handelt.
Und während der Erzähler Asle nicht fassen kann, dass das Schicksal ihn an genau diese Stelle geführt hat, wo er seinen Freund Asle vor dem Kältetod zu retten die Gelegenheit hat, entspinnt sich ein Streit zwischen den beiden, weil der eine Asle nicht ins Krankenhaus will, sondern darauf beharrt, dass er einfach einen Schnaps brauche, habe der andere Asle denn vielleicht einen dabei, denn dann werde er schon gleich wieder ganz der Alte sein.
Fosse schreibt auf Nynorsk, einer norwegischen Minderheitensprache, die vor allem im Südwesten des Landes verwendet wird.
Diese Szene zieht sich, wie immer in Fosses Prosa, Seite um Seite um Seite hin, in einem gebetsmühlenartigen Singsang, den der Autor tatsächlich immer wieder als eine Form Gebet beschrieben hat, und diese Strecke braucht man auch, um zu begreifen, dass die beiden Asles natürlich identisch sind. Man hat es hier mit einer inneren Reise zu tun, in der Erinnerung und Gegenwart in einer Stimme zusammenfinden.
Nie nur in einer Dimension unterwegs
Der Erzähler sucht sein eigenes vergangenes Ich auf, das Jahre zuvor, vor dem Alkoholentzug und dem künstlerischen Exil, diese Szene erlebt haben muss und von einer jenseitigen Kraft, womöglich seinem künftigen Ich, vor dem elendigen, besoffenen Erfrieren bewahrt worden ist.
Man ist bei Fosse nie nur in einer Dimension unterwegs. In den besten Momenten gelinge es ihm, sagt er über sein Schreiben, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem er nichts mehr erfinden müsse und nicht einmal mehr selbst schreiben, weil es eine äussere Kraft gebe, die durch ihn spreche. So ist das gemeint, wenn Fosse sagt, er drücke sich nicht aus.
Bei Rowohlt erscheinen Fosses Romane und Dramen in der virtuosen, musikalischen Übertragung von Hinrich Schmidt-Henkel, trotzdem bleibt ein zentrales Merkmal im Deutschen unerschliessbar. Denn Fosse schreibt auf Nynorsk, einer norwegischen Minderheitensprache, die vor allem im Südwesten des Landes verwendet wird.
Das ist eine bewusste Entscheidung: Gilles Deleuze und Félix Guattari haben in ihrem berühmten Aufsatz über Kafka den «kleinen Literaturen» eine revolutionäre Kraft zugeschrieben, weil diese nicht versuchten, einem Inhalt eine Form zu verleihen, sondern vom Sprechen her kommend eine neue Form hervorbrächten, der sich der Inhalt anpassen müsse.
Jon Fosses Geburtshaus in Strandebarm, daran lässt sich sein Rang in Norwegen vielleicht gut bemessen, ist heute schon ein Museum, unterhalten von der Jon Fosse Foundation, die dort Führungen durch die Kindheitslandschaften des Autors veranstaltet.
Seit 2011 geniesst er ein lebenslanges Wohnrecht in einer Künstlerresidenz im Schloss des norwegischen Königs. Jon Fosse ist jene Art Künstler, dessen Bildwelten längst zum Kulturerbe seiner Nation gehören und in Träumen und Selbstgesprächen der Norweger weiterleben, also dort, wo sie gewissermassen auch ihren Ursprung haben.
Der Dramatiker Jon Fosse in Zürich
Es war eine Setzung: Zur Eröffnung seiner Intendanz am Schauspielhaus Zürich im Herbst 2000 programmierte Christoph Marthaler in der neu erfundenen Schiffbau-Box die deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses «Die Nacht singt ihre Lieder» (Regie: Falk Richter). Hilflos wühlen dort junge Leute in einer sinnentleerten Wohlfahrtsstaat-Tristesse, hängen auf der Couch herum oder in Gedankenschleifen fest. Und das Publikum verfolgte gefesselt und betroffen diesen leisen Rapport einer seinerzeit ubiquitären Dekadenz. Diese Transposition des beckettschen Sounds in die Jahrtausendwende (Beckett hat Fosse extrem beeinflusst, wie er sagt).
Es überraschte keinen, dass beispielsweise Thomas Ostermeier, (Co-)Leiter an der Berliner Schaubühne, damals bekannte, am liebsten würde er in der gesamten Spielzeit nur Stücke von Jon Fosse inszenieren. Die intime Schiffbau-Box in Zürich wiederum entpuppte sich als idealer Schau-Platz für die Hack-Stücke des Norwegers, in denen Blicke und Sätze ins Leere gehen, Wörter ins Nichts tropfen wie «Nein» – «Aber er» – «Ja» – «Aha». Wie im noch recht konkret verorteten «Der Sohn», 2003 in Zürich zu sehen. Oder im abstrakteren, geradezu transzendentalen «Ich bin der Wind», in Zürich 2009 inszeniert vom damaligen Intendanten Matthias Hartmann.
Als ich Fosse damals zur Offenheit der Besetzung in dem formal radikal verdichteten Zweistimmenstück befragte, lächelte er kurz und sagte: «Das ist wie bei Ibsen, den ich sehr bewundere: Meine Stücke sind auch unkaputtbar.» Wo Ibsen jedoch hart und brutal, dämonisch und schmerzhaft sei, klinge es bei ihm liebender, trauriger. Allerdings sei er jetzt an einem toten Punkt angelangt, er warte auf die richtigen Wörter für ein neues Schaffen. 2013 zeigte Werner Düggelin dann auf der Pfauenbühne Jon Fosses Stück «Schönes»: am Bühnenhorizont nichts als weisse Unendlichkeit. Trost haben Fosses betäubte und gebrochene Gestalten nicht gefunden. Aber wir, immer wieder, in ihnen. (Alexandra Kedves)
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