Resultate der Hirnforschung Warum man nie mit Lernen aufhören sollte
Kann man jenseits von 40 oder 50 Jahren noch Chinesisch lernen? Oder Ballett? Neurowissenschaftler sagen: Man kann – und man sollte.
Manche Senioren können einen richtig neidisch machen. Da liest man von einer älteren Dame, die nach Jahrzehnten als Hausfrau ihre Doktorarbeit in Philosophie abgegeben hat, oder von einem 62-Jährigen, der neuerdings alle Alpengipfel erklimmt. Und das, während man selbst mit Mitte fünfzig gerade zu verstehen beginnt, weshalb die Eltern immer so oft «Na, der Dings … du weisst schon» sagen. Was ist nur mit diesen Rentnern los?, mag man sich da fragen. Könnte man womöglich auch selbst noch Cello spielen lernen, die Filethäkelnadel der Grossmutter tanzen lassen oder einen Bachelor in Verhaltensökologie machen? Oder ist es für das meiste ohnehin zu spät?
Betrachtet man den menschlichen Geist rein biologisch, dann muss man einräumen, dass die Neurowissenschaften zunächst keine positive Antwort auf den Ehrgeiz der Generation 50 plus haben. Das Gehirn erreicht schon im zarten Alter von 25 Jahren den Höhepunkt seiner Leistungskraft. Von da an beginnen Nervenzellen abzusterben, die Zahl der Synapsen, also der Kontakte zwischen ihnen, nimmt ab, und auch die Schutzschicht um die Nervenzellausläufer schmilzt, weshalb die Leitungsgeschwindigkeit und mit ihr die Informationsverarbeitung nachlassen. (Mehr dazu: Hirnleistung im Alter – 5 Tipps für ein besseres Gedächtnis)
Lebenserfahrung macht schwindende Hirnleistung wett
«Am Anfang passiert das noch recht langsam, die meisten Menschen merken nichts davon», sagt der Neurowissenschaftler Martin Korte, der an der Universität Braunschweig über das Lernen forscht. Die entstehenden Schwächen fallen nicht so auf, weil man die schwindende Hirnleistung zum grossen Teil mit Lebenserfahrung wettmachen kann. «Mit 45, spätestens mit 50 Jahren sagen die meisten Menschen zum ersten Mal: Oh, mein Gedächtnis», so Korte.
Ein wenig beruhigend ist, dass das nicht nur an der nachlassenden Leistung des Gehirns liegt, sondern auch an seiner bereits erbrachten Leistung: Man hat mit 40 oder 50 Jahren einfach schon wahnsinnig viel gelernt. «Der Gedächtnisraum ist in diesem Alter riesig geworden», sagt Korte, «man hat unglaublich viele Gesichter, Fakten und Namen im Kopf, ein Zwanzigjähriger kommt vielleicht auf ein Zehntel davon.» Je grösser ein Datenspeicher aber sei, desto schwieriger werde es nun einmal, gezielt auf Informationen zuzugreifen.
Aber was bedeutet das, wenn einen mit fünfzig der Ehrgeiz packt? Geht da dann überhaupt noch was?
«Auf jeden Fall», sagt Ursula Staudinger. Die Psychologin und Alternsforscherin, die heute Rektorin der TU Dresden ist, hat jahrzehntelang zum lebenslangen Lernen geforscht. «Man kann lernen, solange man lebt», sagt sie – sofern keine Krankheitsprozesse dabei stören. «Allerdings muss man sich auch klarmachen: Es wird mühsamer.» Dabei kommt es nicht einmal darauf an, was man lernen will. Allerdings hat jeder Bereich seine eigenen Herausforderungen. Ein Überblick.
Wie der Geist fit bleibt
Grundsätzlich gilt: Der Geist ist formbar, bis zuletzt. Das Sprachvermögen wird im Laufe des Lebens sogar besser, sagt Martin Korte, die sprachliche Präzision nimmt zu.
Klare Grenzen gibt es nur, soweit man weiss, beim akzentfreien Erlernen von Sprachen. Hier schliesst sich schon in jungen Jahren unwiederbringlich ein Zeitfenster. «Wir könnten zwar überall auf der Welt geboren werden und jede Sprache perfekt aussprechen», sagt Ursula Staudinger. Doch je mehr wir unsere Muttersprache nutzen, desto stärker wird der Sprechapparat auf sie normiert. «Dann wird es schwieriger, die Muskeln und die Stimmbänder so zu bewegen, wie man es für andere Sprachen braucht.»
Auch in Sachen Gehirnakrobatik – und damit etwa beim Verstehen von höherer Mathematik – gibt es Grenzen. So lässt das Kurzzeitgedächtnis im Laufe des Lebens nach. Deshalb werde es schwieriger, zwei Dinge gleichzeitig im Kopf zu haben, sagt Ursula Staudinger: «Etwas ausrechnen, sich das Ergebnis merken und es dann weiterverarbeiten, solche Dual-Task-Aufgaben fallen zunehmend schwer.»
Zudem nimmt die Konzentrationsfähigkeit ab. Auch das habe biologische Ursachen, so die Psychologin und Alternsforscherin: «Je älter man wird, desto schwerer fällt es, die Gedankenströme zu steuern.» Doch die Hürden für die Älteren lassen sich überwinden, sagt Martin Korte – indem sie ihre Lernstrategie anpassen. Wenn man sich als Erwachsener eine ruhige Umgebung sucht, Lernintervalle verkürzt und sich zwischendrin Notizen macht, ist vieles möglich.
Um den Geist zu schulen, hilft auch Meditation. Sie sei gerade für ältere Menschen sehr wertvoll, sagt Korte. Denn Meditieren stärkt das schwächelnde Arbeitsgedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit, weil man sich dabei zwingt, die Aufmerksamkeit zu fokussieren.
Was der Einfluss von Sport ist
Auch die körperliche Performance befindet sich rein biologisch schon in jungen Jahren im Zenit. Danach beginnen Bänder und Gelenke zu verschleissen, die Dehnbarkeit lässt ebenso nach wie die Pumpkraft des Herzens. Doch mit der Leistung muss es keineswegs schon ab dem 30. Geburtstag bergab gehen, sagt der Sportmediziner Dieter Leyk, der an der Sporthochschule Köln die Forschungsgruppe Leistungsepidemiologie leitet. «Das Altern verläuft individuell sehr unterschiedlich. Es gibt sogenannte Age Drivers wie Rauchen, Alkohol, körperliche Inaktivität oder auch chronische Überlastung, die die Alterung antreiben», sagt er. Mit Sport und Ernährung lasse sich dem aber entgegenwirken.
Leyk hat vor ein paar Jahren die Zeiten analysiert, die 20- bis 80-Jährige für einen Marathon brauchten. Bis zum 50. Lebensjahr gebe es demnach «keine signifikanten Leistungsverluste», so der Sportmediziner. Und selbst danach seien die Einbussen recht moderat. Das beste Viertel der 60- bis 70-Jährigen lief immer noch schneller als die Hälfte der 20- bis 50-Jährigen. «Die haben wir in Anlehnung an den Motorsport Silberpfeile genannt.»
Es komme auf das Training an, sagt Leyk. So liessen sich auch Kraft, Schnelligkeit, Koordination und Beweglichkeit im Alter weiter verbessern. Dass sich viele Menschen ab der Mitte des Lebens im Leistungstief fühlen, ist demnach oftmals eine Folge des falschen Lebensstils. Würde man nicht so viel herumsitzen und den Sport vernachlässigen, bliebe man fit und könnte immer noch selbst so komplexe Sportarten wie Reiten oder Stabhochsprung lernen.
Warum man spät mit Musik anfangen kann
Auch die Welt der Musik steht Älteren noch offen. Dass die meisten Star-Pianisten schon als Sechsjährige Konzerte gaben, bedeute nicht, dass man das Klavierspielen nicht auch sehr viel später erfolgreich lernen kann, hat die niederländische Neurowissenschaftlerin Laura Wesseldijk vor einigen Jahren mithilfe von 310 Profimusikern und 7800 Zwillingen herausgefunden. Demnach waren Musizierende zwar besser auf ihrem Instrument, wenn sie schon vor ihrem achten Geburtstag damit angefangen hatten. Doch die Unterschiede liessen sich fast ausschliesslich darauf zurückführen, dass sie wegen des frühen Beginns naturgemäss auch mehr Übungsstunden zusammengebracht hatten.
Üben sei nun einmal das A und O, sagt Martin Korte. «Es ist wichtig, sich klarzumachen: Einmal pro Woche zum Unterricht zu gehen, ist nicht genug, gleichgültig, ob es um ein Musikinstrument oder eine neue Sprache geht.»
Wie sich die Psyche entwickelt
Den Spruch vom Hänschen kann man also getrost vergessen. Ähnlich verhält es sich mit dem negativen Blick, den Psychologen lange auf die Persönlichkeit hatten. «Früher hiess es, die sei spätestens mit 30 Jahren geformt und ändere sich dann kaum noch», sagt Jule Specht, Persönlichkeitspsychologin an der Humboldt-Universität zu Berlin. «Dabei gibt es auch im Erwachsenenalter noch viel Entwicklungspotenzial.»
Manches geschieht automatisch. So nimmt die Gelassenheit in der Regel mit der Lebenserfahrung zu. Und wenn Menschen sich in der Lebensmitte um ihre Eltern kümmern müssen, kommt es zur «filialen Reife»: «Dieser Rollenwechsel bedeutet eine starke, oft schmerzvolle Veränderung», sagt Ursula Staudinger, «man entwickelt sich zwangsläufig weiter.»
Solche Entwicklungen kann man auch gezielt anstossen, wenn man Veränderung im eigenen Leben provoziert, so die Psychologin. «Dazu ist es wichtig, sich immer wieder in neue Situationen zu begeben. Sich auch selbst die Chance zu geben, immer mal wieder jemand anderes zu sein. Manchmal ist man dann von sich selbst überrascht.»
Und was bringt es?
Das Gehirn wächst mit seinen Aufgaben: Wenn man es nicht benutzt, lässt es unweigerlich nach, weil jeden Tag Nervenzellen zugrunde gehen. Aber mit jeder Aktivität schütten Nervenzellen Wachstumsfaktoren aus, die zum Entstehen neuer Nervenzellen und Nervenverbindungen beitragen. «Use it or lose it», sagen Neurowissenschaftler, benutze es oder verliere es.
«Auch die Aktivierung von Muskeln sendet Wachstumsfaktoren aus, die dem Gehirn helfen, sich zu erneuern», sagt Ursula Staudinger. In der Summe überleben dann trotz des Abbaus mehr Nervenzellen. So können geistiges und körperliches Lernen zusammen das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, Martin Korte zufolge um den Faktor 3,5 senken. Der Ausbruch einer Demenzerkrankung wird so um durchschnittlich sieben Jahre nach hinten verschoben.
Das Schöne dabei ist: Es ist vollkommen gleichgültig, wie gut man am Ende wird. «Insgesamt gilt: Je anspruchsvoller eine Aufgabe ist, desto mehr beansprucht sie mein Gehirn und desto mehr wirkt sie Altersveränderungen entgegen», sagt Ursula Staudinger. Anstrengung lohnt sich also – solange sie nicht in zu grossen Stress ausartet.
Um zu grossen Frust zu vermeiden, ist es wahrscheinlich sinnvoll, beim Lernen ab der Lebensmitte an Bekanntes anzuknüpfen. Eine weitere europäische Sprache lernt sich leichter als Hochchinesisch. Denn die Nervenzellen unter der Schädeldecke nutzen gerne ihre gewohnten Pfade.
Menschen ab der Lebensmitte sollten sich auf die Dinge stürzen, auf die sie wirklich Lust haben, und nicht so darauf schielen, welche Aktivität in Studien die besten Ergebnisse erzielt. Schliesslich lernt man leichter, wenn man Erfolg hat. Und wenn man Spass hat, dann lernt man weiter – egal, ob Saxofon, Astronomie oder Ballett.
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