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Post-Brexit-Verhandlungen
Lenkt Boris Johnson in letzter Minute ein?

Immer wieder unberechenbar: Boris Johnson, Premierminister Grossbritanniens.
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In den nächsten Tagen müssen sich Grossbritannien und die Europäische Union auf einen Vertrag über ihre künftigen Beziehungen einigen – sonst droht zum 1. Januar Chaos in Irland und auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Ob es nach zehn Monaten schleppender Verhandlungen in letzter Minute noch gelingt, eine Übereinkunft zu erzielen, liegt natürlich auch daran, wie weit die EU den Briten entgegenzukommen bereit ist. In London fragt man sich aber vor allem, ob Premierminister Boris Johnson einen Deal überhaupt will.

Warum sollte Boris Johnson keinen Deal wollen?

Er hat nie gesagt, dass er keinen will. Eine Übereinkunft läge, das weiss auch Johnson, in jedermanns Interesse. Ohne neuen Handelsvertrag stünden beiden Seiten enorme Probleme und immense finanzielle Verluste ins Haus. Wesentlich mehr noch als die EU würde ein solcher vertragsloser Zustand – der sogenannte No Deal – das Vereinigte Königreich treffen. Falls von Januar an nur noch nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gehandelt würde, müssten die Briten auf 15 Jahre hin mit einem Einbruch ihrer Wirtschaftskraft um fast 6 Prozent rechnen. Zum Vergleich: Infolge der Corona-Krise erwartet man einen Einbruch von «nur» 2 Prozent.

Welche konkreten Probleme brächte ein No Deal?

Umfassende neue Kontrollen würden wohl erst einmal den Grenzverkehr zum Erliegen bringen. Bestimmte Nahrungsmittel und Medikamente könnten knapp werden. Viele Importe würden sich verteuern. Industriebranchen kämen in Schwierigkeiten, weil es ihnen an Nachschub fehlt.

Laut Umfragen überwiegt die Zahl der Briten, die den Brexit im Rückblick für eine Fehlentscheidung halten.

Kämen dann auch viele Jobs in Gefahr?

Zahllose Arbeitsplätze wären gefährdet. Finanzmärkte, Luftfahrt und Reiseverkehr müssten auf Notfall-Vereinbarungen hoffen. In allen möglichen Bereichen würde die Zusammenarbeit mit der EU ins Stocken kommen. Und den Iren drohte eine neue «physische Grenze» mitten durch ihre Insel – mit allen potenziellen Gefahren für den nordirischen Frieden in einem solchen Fall.

Also wäre ein Deal auch für Johnson logisch?

Kommerziell schon. Aber nicht unbedingt politisch. Denn der Slogan der Brexiteers lautete immer: «Wir holen uns die Kontrolle über unser Leben zurück». «Echte Unabhängigkeit» von Europa hat auch Johnson den Brexit-Anhängern beim Referendum von 2016 versprochen. Und ein neuer Deal mit der EU würde London Kompromisse abverlangen. Würde sich Grossbritannien zum Beispiel zu gleichen Wettbewerbsbedingungen verpflichten, wie es Brüssel fordert, müsste Johnson den Brexiteers erklären, warum nationale Souveränität nach dem Brexit schon wieder eingeschränkt werden müsste – und warum man überhaupt aus der EU ausgetreten ist.

Wie gross ist dieser politische Druck auf Johnson?

Ziemlich gross. Er war ja der unerschrockene Brexiteer, der sein Land aus dem «Joch» der EU zu befreien gelobte. Er liess sich von den Tory-Hardlinern auf die Schultern heben, als Theresa May sich unbeliebt machte bei der Suche nach einer versöhnlichen Vereinbarung mit der EU. Er zog in die Wahlen vom Dezember letzten Jahres mit dem feierlichen Versprechen, Grossbritannien ein für alle mal vom Kontinent abzukoppeln.

Letzte und entscheidende Gespräche über ein Handelsabkommen: David Frost und Michel Barnier, die Unterhändler von Grossbritannien und der EU.

Steht Johnson auch in der Pflicht gegenüber den Seinen?

Die Anti-EU-Tories, die ihn ins Amt hoben, wollen nun sehen, ob er sein Versprechen zu halten bereit ist. Und Nigel Farage mobilisiert bereits seine neue «Reform UK»-Partei, um gegen die Konservativen zu Felde zu ziehen, sobald Johnson sein Land durch Zugeständnisse an die EU «verrät».

Gibt es auch Druck anderer Art?

Angesichts der kommenden Probleme ist die Stimmung im Lande nüchterner als vor ein paar Jahren. Selbst ein elementarer Deal mit der EU, durch den gewisse Zollgebühren vermieden würden, würde ja Grenzprobleme verursachen und jede Menge Extra-Bürokratie erfordern. Den härtesten aller harten Abgänge, einen No Deal, wollen darum nur die wenigsten auf der Insel. Jüngsten Umfragen zufolge überwiegt inzwischen sogar die Zahl der Briten, die den Brexit im Rückblick für eine Fehlentscheidung halten.

Wächst in Schottland der Wille zum Scoxit?

Die Schotten waren immer gegen Brexit. Und unter dem Eindruck der Londoner Politik verlangen jetzt 55 Prozent der Schotten eigene staatliche Unabhängigkeit. Johnsons just bekannt gewordene Ansicht, selbst Schottlands begrenzte Selbstverwaltung sei schon «eine Katastrophe», verschärft den Gegensatz zwischen London und Edinburgh nur noch.

Möglicherweise weiss Boris Johnson selbst noch immer nicht, was er machen soll.

Gibt es auch aus Washington Warnungen?

Die hat Johnson weitgehend selbst zu verantworten. Und zwar weil er neuerdings ernsthaft damit droht, gegen das erst vor einem Jahr geschlossene Austrittsabkommen mit der EU zu verstossen – und so die Rückkehr zu einer «harten Grenze» zwischen Irland und Nordirland zu riskieren. Im Gegenzug haben die US-Demokraten um Joe Biden erklärt, Washington würde bei einem solchen Vertragsbruch den von Johnson sehnlichst erhofften neuen britisch-amerikanischen Handelspakt gar nicht erst unterzeichnen. Bei einem Scheitern der Verhandlungen mit Brüssel stünden die Briten so gegebenenfalls ohne Deal mit Europa und ohne Deal mit den USA da.

Wie stehen also die Chancen für eine Einigung mit der EU?

Londons Rhetorik ist weiterhin trotzig. Johnson ist sich «sicher», dass Grossbritannien auch bei einem Scheitern der Verhandlungen «prächtig gedeihen» würde. Dagegen meint der frühere Labour-Premier Gordon Brown, weil Johnson kaum gleichzeitig mit Europa und den USA «auf Kriegsfuss stehen» wolle, habe er sich «wohl schon dafür entschieden, zu einer Vereinbarung zu kommen». Wetten mag darauf aber niemand. Möglicherweise, hört man in London immer wieder, wisse Johnson selbst noch immer nicht, was er machen soll.