Selbstversuch auf der Weltcup-Piste«Wird wohl nicht so schwierig sein»: Wie unser Autor die Lauberhorn-Abfahrt meisterte
Er stand vor Marco Odermatt im Starthaus, brauste mit 70 km/h unter der Zugbrücke durch und wurde prompt von einem Österreicher angeschnauzt.
Sie hatten mich gewarnt. Freunde, Familie und die Kollegen von der Sportredaktion. Es werde extrem eisig, und es werde alles andere als einfach, da heil runterzukommen, warnten sie. «Wird wohl nicht so schwierig sein», antwortete ich.
Ich wollte diese Abfahrt. Auf was ich baute: mein Selbstvertrauen. Als Franz Heinzer, ein netter Schwyzer, am Lauberhorn 1992 gewann, war ich 15. Schon damals sagte ich mir: «Wird wohl nicht so schwierig sein.» Die Überhöhung meiner sportlichen Fähigkeiten zeichnete mich schon immer aus.
Als ich dem Pressechef der Lauberhornabfahrt von meinem Anliegen erzählte, fragte er mich ernst: «Du bist ein sehr guter Skifahrer, gell?»
Meine Antwort muss überzeugend ausgefallen sein.
So stehe ich nun am ersten offiziellen Trainingstag oberhalb der Kleinen Scheidegg auf meinen Allround-Ski und stelle mich aufs erste Abfahrtsrennen in meinem Leben ein. Ich denke an meinen Sieg im Skilager von 1993, ein Jahr nach dem Lauberhorntriumph von Franz Heinzer. Nun befinde ich mich endlich auf diesem Prestigeberg. Nimm das, Franz!
Als einer von wenigen Amateuren darf ich auf die Strecke. Hinter dem Starthaus wird es eng. Betreuer wuseln herum, knarzende Funkgeräte, über zwei Meter lange Abfahrt-Ski mit messerscharfen Kanten werden klappernd in den Schnee gelegt. In Kürze beginnt der Besichtigungstermin für die Profis.
Und dann fährt, nein schwebt, Marco Odermatt heran. Der Schweizer Olympiasieger, Weltmeister und Gesamtweltcupsieger reiht sich hinter mir ein.
Plötzlich stehe ich vor dem Giganten, der ein Leben lang dafür trainiert hat, möglichst schnell auf Ski Berge runterzustürzen. Im letzten Jahr hat Odermatt hier gewonnen. Ich drehe mich zu ihm hin. Wir nicken uns kollegial zu. Zumindest glaube ich, ein Nicken zu erkennen.
«Kommt gut», denke ich. Wirklich?
Im Starthaus – von einem Ösi-Star angeschnauzt
Natürlich will ich vom offiziellen Startpunkt aus loslegen. Ich zwänge mich ins Starthaus. Von einem Mann im Dress der österreichischen Skinati werde ich angeschnauzt. Ich stehe im Weg. War das Mitfavorit Vincent Kriechmayr? Ich erfahre in diesem Moment, dass nur den Profis der Start aus dem Haus erlaubt ist. Ich muss also weg, rückwärts aus dem Häuschen. Ein ziemlich würdeloses Unterfangen. Mein mentaler Zustand: angeknackstes Selbstvertrauen.
Traversenschuss – grosse Freiheit, grosse Ernüchterung
Die lang gezogenen Kurven nach dem Russi-Sprung, dahinter Eiger, Mönch und Jungfrau in full effect. Ich hätte Lust, auf dieser alpinen Freiheit durch die Tore zu fliegen. Doch Pressechef Christoph Leibundgut macht mir klar: «Kein Carving, nur Rutschen und wo immer möglich abseits der Ideallinie.» Er wird mich auf meiner Fahrt begleiten. Wohl auch, um sicherzustellen, dass ich an den entscheidenden Stellen keine Rillen im eisigen Schnee hinterlasse. Mein mentaler Zustand: ernüchtert.
Einfahrt Hundschopf – von den Besten lernen
Marco Odermatt rutscht mit Justin Murisier, ebenfalls ein begnadeter Techniker im Schweizer Kader, an uns vorbei. Die beiden Stars bleiben lange an der Schlüsselstelle stehen, kraxeln plötzlich ein paar Meter zurück, starren nach unten. Sie visualisieren. Das tue ich auch und stelle mir vor, wie ich den Hundschopf runterfliege. Der ikonische Sprung kommt als Nächstes. Mein mentaler Zustand: ready.
Hundschopf – einschüchternde Enge
Trainer, zwei Kamerateams, Fahrer aus Kanada und den USA, ein Norweger, vier Slowenen – und natürlich Odermatt. Sie drängen in diesem Moment alle zur schmalsten Stelle der Lauberhornabfahrt. Drei, vier Meter bleiben zwischen Netz und Felsen. Hier schiessen die Fahrer ins Leere, 15 Meter in die Tiefe, über 50 Meter weit. Ich bin froh, ist die direkte Linie unterhalb des Hundschopfs gesperrt, selbst für die Fahrer. Alle schwingen also nach der Kante direkt links rüber. Von unten ist die Kante noch eindrücklicher. Mein mentaler Zustand: eingeschüchtert.
Minschkante – dem Star voraus
Unterhalb des Hundschopfs, kurz vor der Minschkante, komme ich Odermatt nahe. Vielleicht zu nahe. Zusammen mit Kollege Murisier stapft er an mir vorbei. Er muss kurz innehalten, weil ich seinen Weg kreuze. Ich fahre, nein, schwebe hinunter. Ein kleiner Sieg. Mein mentaler Zustand: euphorisiert.
Kernen-S – Drehung im Eisfeld
Direkt nach dem Canadian Corner gehts auf den engen Alpweg, der zum Kernen-S führt. Ich weiss es, Pressechef Leibundgut weiss es auch. Wir müssen hier die Ideallinie nehmen. Entsprechend motiviert bin ich, die enge Schlüsselstelle wie ein Profi zu nehmen. Ich visualisiere: direkt anfahren wie Bruno Kernen einst, kein Zwischenschwung. Ich lasse laufen. Ein Fehler. Denn in der Ebene vor der S-Kurve spüre ich, dass ich auf purem Eis gleite. Meine Kanten greifen nicht, und ich drehe mich. Halb rückwärts rutsche ich durch die Steilwandkurve. Mein mentaler Zustand: verängstigt.
Wasserstation – Tempo aufnehmen
Hier stürzen sich die Fahrer einen Steilhang hinunter, der direkt unter eine Zugbrücke durchführt. Über 100 Stundenkilometer erreichen sie hier. Ich lasse es ebenfalls laufen. Auf knapp 70 km/h komme ich. Nicht schlecht, finde ich und schiesse carvend unter der Brücke hervor. Mein Begleiter schaut mit strafendem Blick. Mein mentaler Zustand: trotzig.
Haneggschuss – ein kurzer Rausch
Pressechef Christoph Leibundgut wuchs in Wengen auf. Er kennt hier jede Ecke und hat schon etliche Rennen erlebt. Trotzdem wirkt er oberhalb des Haneggschusses alles andere als abgebrüht. «Die schnellste Passage des gesamten Weltcups», raunt er. 150 km/h werden auf diesem Steilhang erreicht. Das muss meine Marke sein. Ich lasse abermals die Ski laufen, ein kurzer Rausch. Die Anzeige erzählt eine andere Story: Nicht einmal 90 km/h schaffe ich. Mein mentaler Zustand: ambivalent.
Ziel-S – Jubel vor leeren Rängen
Medienchef Christoph Leibundgut weist auf diese Schlüsselstelle hin, die ein Rennen nochmals ändern kann. Nach über zwei Minuten Fahrtzeit versauerten hier im finalen Moment schon viele sicher geglaubte Sieger. Ein Fahrer starb hier gar vor über 30 Jahren: Gernot Reinstadler. Der Österreicher raste ins Netz und erlag später seinen Verletzungen. Ein solches Drama ist inzwischen an dieser Stelle kaum mehr möglich, die Sicherheitsinfrastruktur wurde angepasst. Der Zielsprung ist dennoch beeindruckend steil. Ich wähle die direkte Linie und schwinge mit viel Drive im Zielraum ab. Geschafft! Ich lasse mir einen kurzen Jubel in Richtung Tribüne nicht nehmen. Ein Soldat steht alleine in den noch leeren Rängen und blickt mich mit gelangweiltem Blick an. Hat er gerade den Kopf geschüttelt?
Mein mentaler Zustand: demütig. Und dankbar.
Fazit: Die Lauberhornabfahrt ist für einen guten Amateurskifahrer machbar. Sofern er an den entscheidenden Stellen rutscht, abbremst oder ganz stoppt. Schockierend ist der Hundschopf. Wer hier ins Leere springt, muss nicht nur unfassbar gut sein, sondern auch verrückt.
Franz Heinzer, du bist ein Skigott.
Fehler gefunden?Jetzt melden.