Lasst die Kinder schreien
Die Mutter sagt Nein und das Kind kriegt einen Trotzanfall. Nichts Aussergewöhnliches. Doch viele Mitmenschen halten das kaum aus.
Da liegt er nun, mein Sohn. Schreiend auf dem Boden. Er lässt seinen Krokodilstränen gekonnt freien Lauf. Was ist passiert? Nichts. Mami hat NEIN gesagt. NEIN zum Schokoladen-Adventskalender (im Oktober), NEIN zum Samichlaussack (im Oktober) und NEIN zum Riesenschokoladenei (ein Drittel so gross wie mein Bub): Nein, mein Sohn ist sich ein NEIN von seiner Mutter gewohnt. Nicht, dass der geneigte Leser denken mag, das arme Kind breche bei einem NEIN gleich zusammen. Ein NEIN bei Schokolade stellt für ihn bloss eine mittlere Katastrophe dar.
Doch darum geht es nicht. Sondern um die Reaktionen der Mitmenschen. Offenbar liegt es in unserer modernen Welt nicht mehr drin, dass die Gesellschaft einen Trotzanfall eines Kindes aushält. Ich warte also in geschätzten fünf Metern Entfernung darauf, dass sich mein Sohn vom NEIN-Schock erholt. Wir haben inzwischen die Eskalationsstufe 3 erreicht. Das gute Zureden und das liebevolle, aber bestimmte NEIN-Sagen hatten wir vor fünf Minuten schon hinter uns gelassen.
«Häsch s Mami verlore», säuselt eine Frau in ihren Fünfzigern dem Kind zu. «Was isch dänn los?», fragt eine besorgte Kundin. Schon gesellt sich eine ältere Dame mit sorgenvoller Miene hinzu und meint zu wissen: «Bisch du ganz allei da?» Mein Sohn plärrt sie an. «Es ist alles gut, die Mutter steht hier», rufe ich der SOS-Schar zu. Meine Worte verhallten im Geschrei meines Sohnes. Eine Frau hebt ihn jetzt vom Boden hoch. Mein Sohn guckt verdattert. Hey, super, denke ich – er hört auf zu weinen. «Maaaaami!», ertönt es sogleich – er weint. Na prima: Zum Problemfall Schoggi kommt jetzt noch der vermeintliche Verlust der Mutter hinzu. Ich eile herbei, bedanke mich für die gut gemeinte Hilfe und kläre auf. Die ältere Dame dreht sich zum Sohn: «Lueg, s Mami isch wieder da.»
Wenn eine Mutter also nicht gleich nachgibt und die Energie für eine pädagogisch wertvolle Lektion aufbringt (dem Kind nicht alles kauft), wird ihr Bemühen sogleich von Mitmenschen torpediert. Die Reaktionen sind zwar gut gemeint, aber bitteschön: Das Kind soll doch lernen und nicht verhätschelt werden. Und wohl nur selten wird ein Kind in der Migros ausgesetzt. Offenbar kommt es jedoch nur wenigen in den Sinn, zuerst die Lage abzuchecken, indem sie schauen, wo ein Elternteil ist. Liegt jemand inmitten einer Menschenmenge auf dem Boden (oder eine ältere Frau benötigt Hilfe), schert sich oft eine kleine Ewigkeit niemand darum. Wenn aber Eltern ihr Kind nicht gleich mit einem Kauf ruhigstellen, dann ist das für viele Menschen schwer auszuhalten. Ein schreiendes Kind kann gar negative Reaktionen auslösen: vorwurfsvolle Blicke an die Eltern bis hin zu einem «So heben Sie doch schon das arme Kind hoch». Selbst alles schon miterlebt.
Eltern können es also so oder so nie richtig machen. Irgendwelche Einmischungen gibt es fast immer von einer Seite. Interessanterweise wird ansonsten gerne oft gescheit dahergeredet, meist von Nichteltern: Wie verwöhnt die Kinder von heute seien und dass die Eltern heutzutage ihren Sprösslingen jeden Wunsch erfüllen würden. In einer realistischen Situation hört das Verständnis dann allerdings auf – oder die Nerven liegen blank. Nun stelle man sich mal die Nerven der Eltern vor, die eine solche Situation aussitzen (wahlweise ausstehen) müssen. Weil sie eben: erziehen.
Dieser Artikel wurde erstmals am 10. November 2015 publiziert und am 24. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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