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Untersuchung in Brasilien
Kritik an brasilianischer Corona-Politik elektrisiert das Volk

Eine Brasilianerin gedenkt der Corona-Opfer am berühmten Copacabana-Strand in Rio de Janeiro.
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Freitagnachmittag, kurz nach 15 Uhr. «Gleich gehts loooos!», schreibt eine Nutzerin auf Twitter, «Jetzt knallt es!», ein anderer, und dann ist da noch eine Dame mit dem Profilnamen «Sheilinha». Sie sagt, sie müsse ja eigentlich ihren Kühlschrank putzen, aber: «Ich kann heute auf keinen Fall den CPI verpassen!»

Seit nunmehr zwei Monaten sitzt die Bevölkerung zwei bis viermal in der Woche gebannt vor dem Fernseher, dem Computer oder dem Smartphone und verfolgt ein Spektakel, das eigentlich Comissão Parlamentar de Inquérito heisst, kurz CPI. Es handelt sich dabei nicht um die neuesten Folgen einer der beliebten Telenovelas oder gar um eine Krimiserie. Um Lügen, Verrat und Betrug geht es aber dennoch, genauso aber auch um Tote, sehr viele Tote. Denn der CPI ist ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der klären soll, wer Schuld trägt an der Corona-Katastrophe in Brasilien.

Mindestens 500’000 Menschen hat sie bisher schon das Leben gekostet, und jeden Tag kommen im Schnitt fast 2000 weitere Tote hinzu. Während die Impfkampagne erst langsam anläuft, rollt bereits die nächste Infektionswelle auf das Land zu.

Demonstranten protestieren gegen den Staatschef Jair Bolsonaro und seine Regierung, die Schuld an den hohen Corona-Opferzahlen sein sollen.

Viele Brasilianer glauben, die Regierung und vor allem Staatschef Jair Bolsonaro sind zumindest mitschuldig an der Tragödie. Seit Beginn der Pandemie haben der Präsident und sein Kabinett das Virus und seine Gefahren stets kleingeredet und alle Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie torpediert. Längst gibt es deswegen grosse landesweite Demonstrationen. Gleichzeitig wird der politische Druck immer grösser, durch die Opposition, aber eben auch durch jenen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, den CPI.

Er tagt seit Ende April und besteht vorrangig aus 11 Senatoren, von denen einige dem Präsidenten treu ergeben sind und andere ihm erbittert gegenüberstehen. In einem Saal des Senats hören sie sich die Aussagen der vorgeladenen Zeugen und Experten an: Mediziner, Epidemiologen und Wissenschaftler, aber auch Unternehmer, Menschenrechtler und vor allem Politiker, darunter die ehemaligen Gesundheits- und der Ex-Aussenminister, sowie engste Mitarbeiter aus Bolsonaros Umfeld.

Impfstoffanbieter bekamen nicht mal eine Antwort

Die Sitzungen werden bei TV Senado übertragen, dazu gibt es Livestreams, das Interesse ist riesig, kaum ein anderes Thema bestimmt die politische Debatte in Brasilien derzeit so sehr wie der CPI. Dabei hat er bisher kaum Stichhaltiges zutage gefördert. Am brisantesten war wohl eine Reihe von Mails, die Impfstoffhersteller letztes Jahr geschrieben hatten, um der Regierung Impfstoffe anzubieten, ohne Erfolg. Viele der Mails blieben einfach unbeantwortet.

Der CPI hat auch noch einmal gezeigt, wie sehr Bolsonaro und sein Kabinett statt Vakzinen den Einsatz umstrittener Medikamente förderten. Sogar von einem parallelen Gesundheitsministerium, besetzt mit Corona-Leugnern, im Präsidentenamt ist die Rede, aber das sind nur Anschuldigungen, genauso wie die Mutmassungen, die Regierung hätte stets den Plan gehabt, Brasilien zur Herdenimmunität zu führen, auf Kosten von Millionen Menschenleben.

Belegt ist das alles nicht, dennoch wühlt es auf. Immer wieder gibt es dazu auch amüsante Skandälchen und filmreife Auftritte. Einmal musste der CPI klären, ob die Audionachricht einer Regierungsmitarbeiterin glaubhaft sei. Sie habe behauptet, vor einem renommierten biomedizinischen Labor einen aufblasbaren Penis gesehen zu haben.

Ausschusssitzungen als Phänomen der Popkultur

Wenn eine Abgeordnete den ehemaligen Aussenminister öffentlich auseinandernimmt, werden Mitschnitte davon tausendfach im Netz geteilt. Und Komiker haben begonnen, die Sitzungen über Streamingportale live zu kommentieren – wie Fussballspiele.

Selbst die Teilnehmer des Untersuchungsausschusses machen mit bei dem Spektakel: Manche streamen mit ihren Handys live aus dem Sitzungssaal, andere diskutieren bei Twitter mit Nutzern. Senator Renan Calheiros, offizieller Berichterstatter, sammelt auch im Netz Fragen, die er dann den Vorgeladenen stellt.

Längst ist der Untersuchungsausschuss nicht mehr nur ein Politikum, sondern wirkt wie ein Phänomen der Popkultur, wie eine Telenovela aus dem echten Leben.

Wie wäre die Pandemie verlaufen, wenn eine andere Regierung im Amt gewesen wäre?

Das fragen sich viele Menschen in Brasilien.

Zugleich stellt sich die Frage, wie gross am Ende der Nutzen des Ausschusses sein könnte – und wie real der Schaden, den er anrichten könnte bei der Regierung. Ende August soll der CPI seine Ergebnisse präsentieren. Theoretisch könnte der oberste Staatsanwalt dann Ermittlungen veranlassen, sollte er der Meinung sein, dass strafrechtlich relevante Details offengelegt wurden. Bisher ist das aber unwahrscheinlich, es fehlen konkrete Beweise, und der Staatsanwalt ist ein Bolsonaro-Verbündeter.

Ebenso unwahrscheinlich ist ein Amtsenthebungsverfahren im Anschluss an den CPI. Bolsonaro hat sich im Kongress die Unterstützung des mächtigen Centrão-Blocks gesichert, der stets demjenigen folgt, der die meisten Posten und Pfründen zu vergeben hat.

Und dennoch könnte gerade die enorme Popularität der Ermittlungen dem Präsidenten gefährlich werden. Nächstes Jahr finden in Brasilien Wahlen statt. Die Opposition wird immer stärker, und der Rückhalt Bolsonaros in der Bevölkerung schwindet, auch wegen des Ausschusses CPI: Er mag zwar kaum Beweise geliefert haben, dennoch hat er bei vielen Menschen die Frage aufgeworfen, wie die Pandemie wohl verlaufen wäre, wenn eine andere Regierung im Amt gewesen wäre, eine, die das Virus nicht als «Grippchen» verharmlost, sondern als das betrachtet, was es ist: eine Gefahr für Leib und Leben.