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Kreisrunder Haarausfall
«Die Glatze hat mich befreit»

Kreisrunder Haarausfall: Im Bild Andrea Hülsmann, welche allmählich ihre Haare verloren hat.
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Wir treffen uns beim Bahnhof Bern. «Ich bin ja leicht zu erkennen», hatte Andrea Hülsmann zuvor mit einem Smiley geschrieben. Bis sie ihren Haarverlust akzeptieren konnte, den sie heute sogar mit Humor nimmt, war es allerdings ein langer Weg.

Angefangen habe es etwa um das Jahr 2010, sagt die inzwischen 55-jährige Frau dann beim Gespräch. Plötzlich habe sie auf dem Kopf vereinzelte kahle Stellen bemerkt. Solange die verbliebenen Haare ausreichten, um die Löcher zu überdecken, machte sie sich keine allzu grossen Sorgen. Das änderte sich, als es schlimmer wurde und sich die kahlen Stellen schlechter kaschieren liessen. 

Immunsystem greift Haarwurzeln an

Andrea Hülsmann leidet an Alopecia areata, im Volksmund kreisrunder Haarausfall genannt. Diese Sonderform von Haarausfall ist gar nicht so selten: Laut Thomas Kündig (61), Direktor der Dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich, sind in der Schweiz 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung betroffen – das entspricht bis zu 180’000 Menschen.

Zur Ursache des rätselhaften Haarverlusts sagt Kündig, zu dessen Spezialgebieten die Immun-Dermatologie gehört: «Inzwischen ist klar erwiesen, dass es sich beim kreisrunden Haarausfall um eine Autoimmunerkrankung handelt.»  Das heisst: Das Immunsystem, das normalerweise gegen Bakterien, Viren oder Pilze reagiert, richtet sich fälschlicherweise plötzlich gegen die Haarwurzeln, was dann zum Haarausfall führt.

Und wie bei anderen Autoimmunerkrankungen nehmen in den Industrieländern auch die Fälle von kreisrundem Haarausfall tendenziell zu; darauf würden neuere Studien aus den USA hindeuten, so Kündig. «Wobei auch beim kreisrunden Haarausfall die Frauen etwas häufiger betroffen sind als Männer, allerdings nicht so deutlich wie bei anderen Autoimmunerkrankungen.»

Da man heute den Grund kennt, gibt es inzwischen zahlreiche Therapieansätze gegen kreisrunden Haarausfall. Eine Besserung oder gar Heilung ist aber nicht in jedem Fall zu erwarten. (Lesen Sie auch: Haartransplantationen boomen: Für die Traumfrisur spritzen sie Eigenblut unter die Kopfhaut.)

Man hält sie für eine Krebspatientin

Auch Andrea Hülsmann wollte ihren Haarausfall vorerst nicht einfach hinnehmen. Schliesslich stünden volle Haare noch immer für Gesundheit, Attraktivität und Weiblichkeit. Also liess sie sich bei einer Ärztin Bepanthen spritzen: Der Wirkstoff, der vor allem als Salbe bekannt ist, sollte Entzündungen hemmen und einen allfälligen Vitamin-B-Mangel beheben. Doch die Therapie zeigte keine Wirkung.

Später versuchte sie es noch einmal und konsultierte eine Haarklinik. Doch auch dort konnte man ihr nicht helfen. Mehr oder weniger direkt habe man ihr gesagt: Vergessen Sie es, je wieder Haare zu haben wie vor der Erkrankung, finden Sie sich damit ab. 

Unterdessen hatte Andrea Hülsmann immer mehr Mühe, ihre kahlen Stellen zu verstecken. «Das war stets ein Stress», erzählt sie. Was ihr aus jener Zeit aber fast noch mehr in Erinnerung geblieben ist: «Obwohl man nun längst sah, dass mit meinen Haaren etwas nicht stimmt, hat mich im beruflichen Umfeld nie jemand darauf angesprochen.» Stattdessen musste sie vernehmen, dass hinter ihrem Rücken getuschelt werde, sie habe wohl Krebs und müsse sich einer Chemotherapie unterziehen. 

Ein Bild von früher: Andrea Hülsmann mit Haaren.

In jener Zeit arbeitete Andrea Hülsmann noch als Juristin; dabei bewarb sie sich auch einige Male für eine neue Position. Doch meist sei sie nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. «Beruflich war mein Haarausfall sicher manchmal ein Handicap», meint sie rückblickend. Freundinnen und Bekannte hätten ihr damals geraten, doch eine Perücke zu tragen. «Das kommt für mich aber bis heute nicht infrage», sagt sie bestimmt. Da hätte sie trotzdem immer das Gefühl, dass die Leute etwas bemerken könnten. Und von diesem ewigen Versteckspiel hatte sie langsam genug.

Wie die Betroffenen mit ihrem Haarverlust umgingen, sei sehr unterschiedlich, sagt Romina Rausch (37), Gründerin und Präsidentin des Selbsthilfevereins Alopecia areata Schweiz. Das hänge auch vom Alter und vom Geschlecht ab. Gerade für Frauen sei eine Perücke oder sonst eine Kopfbedeckung aber durchaus eine Option. «Ich bin selbst betroffen, und für mich zum Beispiel ist die Perücke wie ein Kleidungsstück: Je nachdem, worauf ich Lust habe, ziehe ich sie an.» Vor allem an warmen Tagen bevorzuge sie aber oft eine Mütze oder einen Turban. «Die sind dann einfach angenehmer.» Letztlich komme man aber nicht darum herum, die Krankheit «irgendwann zu akzeptieren, sofern sie nicht geheilt werden kann».

Für Andrea Hülsmann war es 2019 so weit: Ermuntert von ihrem Coiffeur, lässt sie sich die Resthaare, die ihr zuletzt immer mehr Sorgen bereitet haben, komplett abrasieren. «Das war für mich wie eine Befreiung», sagt sie heute. 

Die Krankheit eröffnet ihr neue Perspektiven

Diese «radikale Akzeptanz» des Haarausfalls, wie sie es nennt, habe frische Energien freigesetzt. Gleichzeitig mit ihrer äusseren Wandlung hat sie sich auch beruflich neu orientiert. Dabei spielten ihre Erfahrungen mit der belastenden Autoimmunerkrankung eine entscheidende Rolle: Nach zahlreichen Weiterbildungen arbeitet die ehemalige Juristin und Kriminologin heute je zur Hälfte als Coach und Körpertherapeutin mit eigener Praxis in Bern sowie als Soziotherapeutin im Justizvollzug. Da wie dort begleitet sie Menschen in schwierigen Lebenssituationen. 

Obwohl ihr Leben also eine unerwartet bereichernde Wende genommen hat, verleugnet Andrea Hülsmann nicht, dass ihre Krankheit sie nach wie vor beschäftigt. Natürlich nehme sie wahr, dass sie mehr angeschaut werde als andere. Nicht, dass die Leute starren würden, aber eine Frau ohne Haare falle halt auf. Und als Singlefrau, die ihre letzte Partnerschaft vor der Erkrankung hatte, müsse sie sich auch fragen: Nimmt mich mit Glatze noch jemand?

Aktuell seien ihre Haare zwar wieder ein bisschen gewachsen – aber nicht so, dass sich wieder eine Frisur machen liesse. «Nein, nein», wischt Andrea Hülsmann alle Zweifel beiseite. «Ich fühle mich wohl mit meiner Glatze, sie gehört heute zu mir.» 

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