Kommentar zur Aufhebung der Covid-Massnahmen Krank zur Arbeit – damit muss endlich Schluss sein
Die neue Normalität muss sein, dass wir auf andere und uns selber mehr Rücksicht nehmen und im Zweifelsfall zu Hause bleiben. Davon profitieren am Ende alle.
Die Nase trieft, die Augen tränen, ein Nieser jagt den anderen. Die Hustenanfälle sind so stark und anhaltend, dass kein vernünftiges Gespräch möglich ist. Dennoch quälen wir uns an den Arbeitsplatz, um dort schniefend zu stammeln: «Es ist ja nur eine leichte Erkältung.»
So sah die Normalität vor Corona aus. Egal, wie krank wir uns fühlten – solange wir halbwegs aufrecht gehen konnten, ging ein Grossteil von uns zur Arbeit. Jeder und jede Dritte, um genau zu sein. In einer Umfrage der Gewerkschaft Travailsuisse gaben vor einigen Jahren 30 Prozent der Beschäftigten an, auch im Krankheitsfall nicht zuhause zu bleiben.
Während der Pandemie war es klar. Egal, ob wir uns krank fühlten oder nicht – bei einem positiven Test mussten wir zuhause bleiben. Ab Freitag trägt nicht mehr der Staat die Verantwortung für diesen Entscheid, sondern wieder jeder und jede Einzelne. Das ist ein guter Moment, um unseren Umgang mit Krankheit am Arbeitsplatz grundsätzlich zu überdenken.
Erklärungen, warum um jeden Preis gearbeitet werden musste, hatten wir haufenweise auf Lager: Die Aufgabe konnte keinen Tag länger warten. Der Termin durfte unter keinen Umständen versäumt werden. Die Kollegen und die Chefin sollten bloss nicht denken, man sei ein Weichei. Also schluckten wir eine Tablette gegen das Fieber, spülten sie mit einem Schluck Hustensirup runter, jagten einen Stoss Nasenspray in jedes Nasenloch und zogen als lebendige Virenschleuder los in Richtung Büro, Geschäft oder Fabrik.
Dabei hätten wir es eigentlich besser wissen sollen, seit vor bald 100 Jahren das Grippevirus entdeckt wurden und danach andere Virenstämme, die Erkältungen verursachen. Die hohe Infektionsgefahr ist kein Alleinstellungsmerkmal von Covid-19. Andere Coronaviren sind ebenfalls sehr ansteckend, ebenso wie Rhinoviren, Adenoviren und andere Auslöser von Erkältungen auch.
«Krank zur Arbeit erscheinende Arbeitnehmende kosten das Unternehmen mehr als krankheitsbedingte Fehlzeiten.»
Über diese Erkenntnisse sahen wir jahrzehntelang grosszügig hinweg. Wichtiger schien es, den Ruf der Schweizerinnen und Schweizer als besonders fleissig und arbeitsam zu wahren.
Mit der Pandemie hat sich das gründlich geändert. Schon nur wer hustend und verschnupft auf die Strasse geht, wird schief angeschaut - bei der Arbeit erst recht. Das ist auch gut so. Schliesslich zeigen Studien, dass krank zur Arbeit erscheinende Arbeitnehmende das Unternehmen mehr kosten als krankheitsbedingte Fehlzeiten.
Die kranke Person am Arbeitsplatz kann nicht nur gesunde Kolleginnen und Kollegen anstecken. Sie ist auch fehleranfälliger und trägt ein erhöhtes Unfallrisiko aufgrund verminderter Leistungsfähigkeit und Konzentrationsschwächen. Verschleppt sie die eigene Erkrankung, riskiert sie am Ende längere Ausfallzeiten und schlimmstenfalls chronische Krankheiten.
Diese Erkenntnis sollte auch in den Chefetagen angekommen sein. In den einschlägigen Ratgebern wird postuliert, dass Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen und bei Erkältungssymptomen daheim bleiben sollen. Und ein Betriebsklima schaffen, in dem Dauerpräsenz weder als besonders lobenswert angesehen noch honoriert wird.
«Es ist ja nur eine leichte Erkältung»: In der neuen Normalität darf dies keine Entschuldigung mehr sein. Unsere hohe Arbeitsmoral stellen wir gescheiter unter Beweis, indem wir im richtigen Moment kürzertreten.
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