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Corona in den Slums von Indien
«Kommt bloss nicht raus»

Nur der Mann im Schutzanzug, der von der Gesundheitsbehörde, darf auf die Gasse: Szene aus Dharavi, aufgenommen Mitte April.
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Wenn Shyam Kanle die Geschichte seiner Jeans erzählt, muss er lachen. Sauber gewaschen liegt sie in seinem Schrank, die Jeans ist seine Ausgehhose. Früher hat sich seine Frau immer gefreut, wenn er sie angezogen hat. Das sah chic aus, irgendwie geschäftsmässig. Vielleicht war sie manchmal auch froh, wenn er unterwegs war und sie ihre Ruhe hatte, um Kindern aus der Nachbarschaft Nachhilfe zu geben. Aber jetzt ist das anders. Die Schüler kommen seit Mitte März nicht mehr. Und wenn Kanle seine Jeans rauszieht, gefällt das seiner Frau überhaupt nicht. Dann wirft sie ihm diesen Blick zu: Denk nicht mal dran.

«Meine Frau lässt mich kaum noch zur Tür hinaus», sagt Shyam Kanle in die Kamera seines Smartphones, ein freundlicher, runder Mann. Schnurrbart, dunkle Augen, angegraute Bartstoppeln, Glatze. Und schon ist das Bild wieder verschwommen. Kanle geht beim Reden in seinem kleinen Schlafzimmer herum, nein, er dreht sich mehr um sich selbst, das Telefon in seiner Hand wippt auf und ab. Zitterbilder aus Mumbai, aber der Ton ist stabil.

Was sich in Dharavi wirklich abspielt, ist schwer zu überblicken

Natürlich habe seine Frau mit ihrer Vorsicht recht. In diesen Tagen durch die Gassen von Dharavi zu laufen, keine gute Idee. Schon wegen der Polizisten mit ihren langen Stöcken. Vor allem aber wegen der Seuche. Covid-19 verbreitet sich über alle Kontinente und hat auch den indischen Slum Dharavi erreicht. Er liegt eingezwängt zwischen zwei Bahntrassen im Herzen der 25-Millionen-Metropole Mumbai.

Indische Polizisten bestrafen Zivilisten, die unnötigerweise aus den Slums von Dharavi herausgekommen sind.

Familie Kanle verfolgt im Fernsehen, wie die Zahlen der Covid-19-Fälle in die Höhe klettern. Am 1. April wurde der erste Fall in Dharavi gemeldet, einen Tag später starb der Mann. Mitte des Monats stieg die Zahl der Toten auf zehn, inzwischen weiss man von mehr als 300 Infizierten und 18 Toten. Was sich in Dharavi wirklich abspielt, ist schwer zu überblicken. Die Behörden kennen ja nicht einmal die Zahl der Bewohner. Irgendwas zwischen 700’000 und einer Million.

Fort kämen sie jetzt wohl nicht mehr, selbst wenn sie es wollten

Shyam Kanle ist nervös. Seine Familie zählt nicht zu den Ärmsten, er besitzt ein Haus, aus Ziegeln gebaut, 27 Quadratmeter Grundfläche, ein zweites vermieten sie. Auch ein Auto können sie sich leisten, aber fort kämen sie jetzt wohl nicht mehr, selbst wenn sie es wollten. Zu viele Checkpoints. Wie überall in Indien gelten strenge Ausgangsbeschränkungen, Premier Narendra Modi hat sie bis Mitte Mai verlängert, wie es danach weitergeht, hat er noch nicht bekannt gegeben.

Der Lockdown stellt Indien mit seinen 1,3 Milliarden Menschen auf die schwerste Probe seit den blutigen Wirren der Unabhängigkeit. Und noch ist nicht sicher, was mehr Opfer kosten wird: die Härte der Covid-19-Politik, die Millionen Tagelöhner an den Abgrund treibt – oder die Seuche, die sich trotz Beschränkungen ausbreitet, auch in Dharavi, einem der am dichtesten besiedelten Orte der Erde.

Shyam Kanle beim Videointerview mit Arne Perras.

Shyam Kanle ist 47 Jahre alt, er ist hier geboren und aufgewachsen. Seine Familie kann er durch Mieteinnahmen ernähren. Ausserdem arbeitet er für Behörden und Organisationen, die seine Ortskenntnis brauchen. Mögen sich die reichen Leute jenseits der Bahntrassen auch wilde Geschichten über das Viertel erzählen: Kanle spricht voller Stolz über diesen Ort. Dharavi, wo er an jeder Ecke jemanden kennt. Es gibt viele, die sagen, es ist ein Höllenloch.

Tag und Nacht eingesperrt in der stickigen Enge, wer soll das aushalten? Kanle ist sich sicher: In jeder einzelnen Gasse von Dharavi leiden sie nun unter diesen Qualen. Denn eigentlich darf niemand hinaus, es sei denn, um Essen oder Wasser zu holen, um die öffentliche Toilette aufzusuchen oder um sich Medizin zu kaufen. Polizisten patrouillieren durch die Gassen, sie sollen die Regeln durchsetzen, kürzlich seien sie wieder dagewesen, sagt Kanle. Direkt vor seiner Haustür. Er hörte sie brüllen, er sah, wie sie ihre Stöcke schwangen und Leute zurück in die Häuser scheuchten. «Bleibt drinnen», hörte Kanle sie rufen. «Kommt bloss nicht wieder raus.» Wer nicht spurt, dem drohen Prügel.

In Kanles Ziegelhäuschen ist es eng, das Erdgeschoss hat er an eine andere Familie vermietet, mit seiner Frau und den Söhnen lebt er im ersten Stock. Neben einem winzigen Schlafzimmer liegt der zweite Raum, den sie «Hall» nennen. Drei mal vier Meter. Hier hängt der Fernseher, und hier essen sie. Meistens Gemüse, Reis und Pfannkuchen. Manchmal auch Fisch oder Hammel. In Zeiten des Lockdown allerdings ist der Speiseplan geschrumpft, sie kaufen, was es gibt. Zuletzt gab es nur Bittermelone und Bockshornklee.

Ein indischer Mann schaut aus dem Fenster seines Zimmers in den Slums von Dharavi. Er ist Tag und Nacht eingesperrt.

Kanle geht mit wackelnder Kamera durch das Haus, vorbei an der Wand im Schlafzimmer, an der Badminton-Schläger hängen, lange nicht mehr benutzt. In der Halle, die mehr ein Vorraum ist, stehen jetzt die beiden Söhne und seine Frau Vimal, winken in die Kamera, ihre Gesichter verdeckt mit chirurgischen Masken, als wollten sie beweisen, dass sie die Regeln ernst nehmen. Aber längst nicht alle in Dharavi haben Masken, viele binden sich Tücher um.

Ihren Esstisch haben die Kanles auf die Dachterrasse gestellt. Eine blaue, steile Metalltreppe führt hoch, von hier sieht man über die Dächer, in der Ferne ragen Wolkenkratzer in den Himmel. Zwei von drei Bewohnern Mumbais allerdings leben ganz unten, in irgendeinem Slum. Hier oben steht auch der Wassertank, der Dusche und Waschbecken der Familie versorgt; solange es Strom gibt, füllt er sich jeden Morgen neu. So viel und oft hätten sie sich in der Familie noch nie die Hände gewaschen, sagt Kanle.

«Ich denke nur: Hoffentlich ist es schnell vorbei. Ich vermisse sie alle.»

Shyam Kanle

Viele in Dharavi aber teilen sich nur einen Wasserhahn draussen in ihrer Gasse, sie müssen jeden Tag über einen Schlauch Fässer und Kanister befüllen. Mit den Toiletten ist es noch schwieriger, die wenigsten haben eine eigene, manchmal müssen sich 300 bis 400 Bewohner eine teilen. Auch auf den Bahngleisen erleichtern sich noch immer Menschen, wenn sie einen Weg über die Mauer oder durch den Zaun finden. Eigentlich ist das verboten.

Shyam Kanle hat fast alles im Haus, was er braucht, nur selten geht er noch vor die Tür. Einmal nur geht er raus, dreht ein Video: zwölf Sekunden Dharavi im Lockdown. Ein Huhn flattert durchs Bild und gackert, sonst Stille. Ein älterer ausgemergelter Mann geht vorbei, in der Ferne ist ein junger Mann zu sehen. Keine Spur mehr von der quirligen Geschäftigkeit, die sonst hier herrscht. Verschwunden die fliegenden Händler und Kioskbesitzer, die Näherinnen und Schuhmacher, die Lastenträger und Müllsammler. Als hätte Dharavi sie alle verschluckt. «Ich weiss nicht, was ich denken soll», sagt Kanle. «Ich denke nur: Hoffentlich ist es schnell vorbei. Ich vermisse sie alle.»

Ein Überblick über die Slums von Dharavi, das als eines der grössten Elendsviertel der Welt gilt, während des Coronavirus-Notfallschutzes in Mumbai, Indien, im April 2020.

Nur zum Grossvater gehen sie jeden Tag. Er wohnt 50 Schritte weiter, die Gasse hinunter. Wenn Vimal Kanle kocht, bereitet sie erst die Mahlzeit für den alten Mann, der nicht zu scharf essen darf, dann kocht sie für den Rest der Familie. Ihr Schwiegervater ist 79 Jahre alt und lebt jetzt abgeschottet in einem Zimmer in der Nachbarschaft, sie stellen ihm das Essen auf den Tisch, dazu eine Karaffe Wasser, sie halten Abstand. «Wir lassen niemanden sonst zu ihm.» Sein Vater halte ganz gut durch, sagt Kanle.

Er habe viele Krankheiten kommen und gehen sehen, sagte der Grossvater, als das Virus Dharavi erreichte. Auch Covid-19 werde wieder verschwinden, da sei er sich ganz sicher. Sie müssten nur Geduld haben, durchhalten, nicht die Nerven verlieren. Zu Hause werden die Stunden jetzt lang, das Smartphone ist allgegenwärtig, sie machen Onlinespiele, schauen fern. Oder sie setzen sich für eine Runde Carambole um das Holzbrett.

Die Leute helfen sich gegenseitig aus, so gut es geht

Dharavi ist abgeriegelt, die meisten kommen gar nicht mehr raus, und Märkte im Slum haben geschlossen. Die Leute helfen sich jetzt gegenseitig aus, so gut es geht. Um die Ausbreitung von Covid-19 zu bremsen, machen Männer und Frauen in blauen Schutzanzügen die Runde durch die Gassen, sie messen die Temperatur der Bewohner. «Bei uns sind sie noch nicht vorbeigekommen», sagt Kanle. Er ist aber froh, dass die Gesundheitsbehörden jetzt auch in Dharavi vorbeischauen, wie sonst sollte es eine Chance geben, die «Zeitbombe» zu entschärfen.

Der Premier hat allen Mut zugesprochen, noch weiss keiner, wie hart es Indien treffen wird. Manche hoffen, dass die Hitze vor dem Monsun die Ausbreitung des Virus hemmen wird, andere setzen darauf, dass die Impfung gegen Tuberkulose, die viele Inder haben, einen gewissen Schutz bietet. Forscher beschäftigen sich damit, bewiesen aber ist das alles nicht. Sicher ist nur: Indiens Gesundheitssystem ist kaum gewappnet, wenn sich Covid-19 ausbreitet.

Was Kanle am meisten fürchtet, sind Szenen, wie er sie im Fernsehen gesehen hat: Bandra West, sechs Kilometer von Dharavi entfernt: Die Kameras zeigen einen gewaltigen Menschenauflauf, 1000 bis 2000 Leute rund um den Bahnhof, sie drängen sich dicht zusammen. «Das ist das Letzte, was wir in Dharavi brauchen», sagt Kanle. Er betet, dass sich dies nicht in seinem Viertel wiederholen wird.