Kriegsverbrechen aus der KolonialzeitKongolesische Frauen triumphieren gegen Belgien
Der Kolonialstaat fürchtete «Mischlingskinder» im Kongo und entriss sie ihrer Familie. Nun muss Belgien zahlen. Ein epochales Urteil.
- Fünf Frauen gewannen gegen den belgischen Staat in einem Urteil für Kolonialverbrechen.
- Die Frauen erlitten als Kinder Trennung und Missbrauch unter belgischer Herrschaft.
- Das Berufungsgericht sprach den Frauen je 50’000 Euro Entschädigung zu.
- Belgien hat bislang keine vollständige Verantwortung für seine Kolonialverbrechen übernommen.
Monique Bitu Bingi war vier Jahre alt, als Papa Staat sie entführte. «Papa l’État», so nannten die Menschen im Kongo damals, Anfang der Fünfzigerjahre, die belgische Kolonialherrschaft. Papa Staat erschien in Gestalt eines belgischen Beamten, der unter allerlei Drohungen anordnete: Die kleine Monique müsse ihre Familie und ihr Dorf verlassen, um fortan bei katholischen Nonnen zu leben.
Tags darauf machten sich Mutter, Onkel und Grossvater mit dem Mädchen auf den Weg. Drei Tage lang gingen sie zu Fuss, dann brachte sie ein Lastwagen ans Ziel: das Kloster der Schwestern von Saint Vincent de Paul in Katende. Es waren aber nicht die Nonnen, die das verzweifelte Kind trösteten, sondern andere afrikanische Kinder, die sein Schicksal teilten. Sie alle waren vom Papa Staat entführt worden, weil sie einen belgischen, also weissen Vater hatten.
Belgische Regierung wollte «Mischlingskinder» wegsperren
«Kinder der Sünde» wurden sie damals genannt. Die belgische Regierung fürchtete, sie würden auf lange Sicht ihre Herrschaft im Kongo untergraben. Denn nur mit einer klaren Trennung zwischen Weiss (Herrscher) und Schwarz (Untertanen) könne das Kolonialsystem funktionieren. Die «Mischlingskinder» (enfants métis) sollten weggesperrt werden, unter sich heiraten oder sich am besten gar nicht fortpflanzen. In belgischen Regierungsprotokollen aus den Fünfzigerjahren ist zu lesen, kein Mittel könne zu radikal sein, um das «Mulattenproblem» zu lösen. Die katholische Kirche war eine willige Helferin.
Am Montag dieser Woche erhielt Monique Bitu Bingi eine späte Genugtuung. Der belgische Staat wurde von einem Berufungsgericht dazu verurteilt, ihr und ihren vier Mitklägerinnen jeweils 50’000 Euro an Entschädigung zu zahlen. Léa Tavares Mujinga, Noëlle Verbeeken, Simone Ngalula, Marie-José Loshi, Monique Bitu Bingi. Sie alle wurden in der Provinz Kasai im Alter zwischen zwei und vier Jahren ihren Eltern entrissen und durchlitten Höllenqualen, ehe sie es nach Europa schafften. Vier der Frauen leben in Belgien, eine in Frankreich. Gemeinsam haben sie nun Geschichte geschrieben.
50’000 Euro sind keine grosse Summe, wenn man bedenkt, welche Leiden diese fünf – und ungezählte andere kongolesische Kinder mit weissen Vätern – damals erlitten. Aber die Urteilsbegründung ist ein epochaler Schritt für den belgischen Staat: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Erst 2018 bekannte sich das belgische Parlament dazu, dass die kongolesischen «Mischlingskinder» zu Kolonialzeiten Opfer von «gezielter Segregation» und «Zwangsumsiedlungen» waren. Der damalige Ministerpräsident Charles Michel entschuldigte sich im Namen des Staates für den Umgang mit den «Kindern der Sünde». Eine völkerrechtliche Verantwortung aber lehnte der Staat ab.
In erster Instanz verloren die kongolesischen Frauen
In erster Instanz hatten die Frauen ihren Prozess verloren. Sie wurden sogar dazu verurteilt, dem Staat die Gerichtskosten zu erstatten. In der Berufung jedoch folgte das Gericht den Argumenten der Kläger: Der belgische Staat poche seit je auf die Einhaltung des Völkerrechts in aller Welt. Und was er mit den «Mischlingskindern» damals anstellte, stelle nach Grundsätzen des Völkerrechts ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Monique Bitu Bingi hat mehreren Medien ihre Geschichte erzählt. «Wir wurden seelisch und körperlich zerstört», sagte sie dem Sender Radio France International.
Als der Kongo 1960 die Unabhängigkeit erlangte, wurden die Kinder darauf vorbereitet, nach Belgien gebracht zu werden. Sie trugen schon Schilder mit Namen und Geburtsdatum um den Hals. Aber am Ende wurden nur die katholischen Schwestern fortgebracht. Die Kinder sahen zu, wie das Flugzeug abhob. «Papa L’État» überliess sie ihrem Schicksal. Von da an wurde alles nur noch schlimmer.
In den Wirren der Unabhängigkeit fiel die Gruppe von Kindern, denen Monique angehörte, in die Hände von Milizen. Die Mädchen wurden, so schildern sie es heute, jede Nacht vergewaltigt. Irgendwann brachte man sie zu Pflegefamilien, wo sie in ärmlichsten Verhältnissen aufwuchsen, traumatisiert, ihrer Identität beraubt. Es waren schliesslich niederländische Mönche, die auf Monique aufmerksam wurden und dafür sorgten, dass sie zur Schule ging. Ihre Mutter sah Monique noch einige Male, aber sie war ihr eine fremde Person geworden. Wenn Monique damals gefragt wurde, wer denn ihr Vater sei, antwortete sie stets «Papa l’État».
Wer bin ich? Die Frage trieb Monique Bitu Bingi ein Leben lang um. Im Alter von 32 Jahren gelang es ihr, nach Belgien auszuwandern. Aber ihr wirklicher Vater, ein belgischer Offizier, war mittlerweile nach Argentinien ausgewandert, Monique hat ihn nie getroffen.
Der belgische Staat will keine Verantwortung für Kolonialzeit übernehmen
Das belgische Königshaus und der gesamte belgische Staat tun sich bis heute schwer, die Verantwortung für die Kolonialzeit zu übernehmen. Leopold II. führte den Kongo vom Jahr 1885 an als Privatkolonie und liess das Land und die Menschen gnadenlos ausbeuten. 1908 übernahm der belgische Staat die Kolonie und führte ein kaum minder unmenschliches Regime.
König Philippe und seine Frau Mathilde haben vor zwei Jahren den Kongo bereist und viel Zuspruch erfahren. Der Bewegung «Black Lives Matter» ist zu verdanken, dass das Parlament eine Kommission zur Aufarbeitung der Kolonialzeit einsetzte. Doch nach wie vor steht in unmittelbarer Nähe des Königspalasts eine Statue von Leopold II. Und der Staat hat sich immer noch nicht offiziell für die gesamte Kolonialzeit entschuldigt. Nun gibt es immerhin ein Urteil in fünf Fällen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Als es am Montag verkündet wurde, flossen Tränen bei Monique Bitu Bingi, die im Gerichtssaal begleitet wurde von ihren Kindern und Enkelkindern. «Wir sind so oft erniedrigt worden», sagte sie. «Wir haben nicht mehr daran geglaubt.»
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