Interview über koloniales Erbe der Schweiz«Koloniales Denken wirkt überall nach»
Auch wenn die Schweiz keine Kolonialmacht gewesen sei, habe sie dennoch vom System profitiert, sagt Historikerin Tanja Hammel. Die Folgen sind auch heute noch fester Bestandteil unserer Alltagskultur.
Frau Hammel, wie war die Schweiz in den Kolonialismus verwickelt?
Erst einmal wirtschaftlich. Seit Anfang der 2000er-Jahre wird darüber geforscht, wie die Schweiz in den transatlantischen Sklavenhandel involviert war. Stichwort Dreieckshandel: Stoffe, Waffen und Alkohol wurden nach Westafrika verkauft, Sklavinnen und Sklaven wurden über den Atlantik geschifft, dann kehrten die Schiffe voll beladen mit Baumwolle, Kaffee, Zuckerrohr und anderen Kolonialwaren nach Europa zurück. Sklavenhandel hätte ohne die Schweizer Finanzgesellschaften nicht stattfinden können. Schweizer generierten ihren Reichtum in den Kolonien: Alfred Escher auf einer Kaffeeplantage auf Kuba, David de Pury mit Holz-, Diamanten- und Menschenhandel.
Die Schweiz war also wirtschaftliche Nutzniesserin der Kolonialherrschaft?
Sie profitierte finanziell, koloniale Netzwerke wurden aber auch für Reisen genutzt, die für die Wissensproduktion und den Wissenschaftsstandort Schweiz von Bedeutung waren. Enge Kontakte zu Kolonialeliten begünstigten natur-, sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungen. Wie eng diese Kontakte waren, zeigt auch das Beispiel des Schweizers Isaac Faesch (1687–1758), der Gouverneur von Curaçao war, einer holländischen Kolonie.
Spielten neben Handel und Reisen auch religiöse Missionen eine wichtige Rolle?
Missionsangestellte waren bestrebt, ihren Glauben sowie ihre Normen und Werte zu verbreiten – abgesehen von der ökonomischen Komponente der Handelsgesellschaften, die Missionen ebenfalls betrieben haben. Sie schufen Wissen und brachten kulturelle Artefakte zurück in die Schweiz, die heute in Museen sind und über deren Rückerstattung teilweise debattiert wird. Missionsquellen sagen oft mehr über das Selbstbild der Schweiz sowie ihr Bild des Missionsgebietes aus als über die aussereuropäische Region. Die Idee der Schweiz als humanitäre Akteurin wurde gestärkt und die koloniale Realität ausgeblendet.
«Kolonialismus war in der Schweiz lange Zeit ein Tabuthema.»
Die Schweiz war aber nie eine Kolonialmacht. Die viel grösseren Übeltäter waren doch England oder Frankreich.
Wenn man sich mit Kolonialismus beschäftigt, beschreibt man nicht nur die Erweiterung des politischen Einflusses oder die ökonomische Dominanz. Es geht um eine weit grössere Anzahl von asymmetrischen Beziehungen. Die kolonialisierte Gesellschaft, ihre natürlichen, menschlichen Ressourcen sowie kulturelle Formen wollten beherrscht werden. Und da waren nicht nur Kolonialmächte beteiligt, sondern auch die Schweiz. Wenn man sich heute mit neuer Kolonialgeschichte beschäftigt, setzt man sich folglich mit kolonialem Wissen auseinander. Es geht um das Wissen, das benötigt wird, um die Ausbeutung von Ressourcen, den Handel und die Besetzung zu legitimieren, aber auch um das Wissen, das dabei neu entsteht.
Also hat auch die Wissenschaft koloniale Herrschaft für sich nutzen können?
Die ersten Wissenschaftler im 19. Jahrhundert konnten sich durch Reisen etablieren und die Wissenschaft zu ihrem Beruf machen. Es entstanden in den letzten Jahren zahlreiche Studien, etwa über Naturforscher und Ärzte, die durch afrikanische Länder gereist sind, oder über Grönlandforscher, die nach ihrer Rückkehr in der Schweiz Karriere gemacht haben. Aber auch Wissensbestände, -zweige und wissenschaftliche Disziplinen entstanden in kolonialen Settings.
Im Buch «Schwarze Geschäfte» von 2005 steht, dass Schweizer Firmen direkt oder indirekt an der Deportation von 172’000 Sklaven beteiligt waren. Wie kommt man auf diese Zahl?
Ich bin immer vorsichtig, wenn es um Zahlen geht. Global spricht man von 11 bis 25 Millionen Sklaven, die Dunkelziffer aber ist gross. Auch mit Blick auf die Schweiz, es werden wohl mehr als 172’000 gewesen sein. Die Ausstellung «Indiennes» im Landesmuseum zeigte am Beispiel der Bank Leu auf, dass zeitweise 30 Prozent der Aktien an der französischen Compagnie des Indes in Schweizer Händen gewesen sind.
Schweizer wüssten praktisch nichts über Kolonialismus, sagen viele Historiker und Historikerinnen. Warum ist das so?
Weil es lange Zeit ein Tabuthema war. An der 3. Weltkonferenz gegen Rassismus in Südafrika 2001 vertrat Jean-Daniel Vigny, Schweizer Menschenrechtsvertreter bei der UNO, die Meinung, die Schweiz sei nicht von Entschädigungsforderungen betroffen, da sie nichts «mit dem Sklavenhandel, der Sklaverei und dem Kolonialismus» zu tun habe. 2003 folgten Anfragen an Nationalrat und kantonale Parlamente, die Geschichte aufzuarbeiten. Schweizer Historiker wie Janick Schaufelbuehl und Hans Fässler nahmen sich der Thematik an. Wichtige Anregungen für das spätere Forschungsfeld der postkolonialen Schweiz erfolgten unter anderem durch den Südafrikaner Patrick Harries.
Sie haben das Wort «postkolonial» verwendet. Bitte erklären Sie uns, was es eigentlich bedeutet.
Mit dem Wort «postkolonial» meint man nicht, dass heute der Kolonialismus der Vergangenheit angehört, sondern dass wir in einer Zeit leben, in der es viele koloniale Nachwirkungen gibt – in Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Diese Nachwirkungen zeigen, wie aktuell die Kolonialgeschichte ist.
Der Forschungsrichtung wird vorgeworfen, sie urteile mit der Sensibilität von heute über eine Zeit, in der die Bedingungen völlig anders waren. Stimmt das nicht?
Wir sind nicht anachronistisch, vielmehr wollen wir progressive Geschichte schreiben, das heisst, wir wollen nicht den Status quo legitimieren. Wir wünschen uns Gleichberechtigung und interessieren uns für historische Akteurinnen, die bisher vernachlässigt worden sind, sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Klasse oder ihrer Herkunft.
Die Schweiz debattiert über Mohrenköpfe und Denkmäler, oft sehr kontrovers. Sind das solche Nachwirkungen kolonialer Denkweisen?
Ja, koloniales Denken wirkt in allen Bereichen nach. Ich ging in Laufen aufs Gymnasium, wo die «Schokoladenschaumköpfe» von Richterich produziert werden. Diesen Begriff hat unser Geschichtslehrer schon in den Nullerjahren verwendet. «Mohrenkopf» ist ein Relikt wie «Fräulein». Er gehört in dieselbe Kategorie wie die Puppen mit Baströckchen meiner Grossmutter oder die Spendendose-«Nickneger» der Missionsgesellschaften, die nur noch in Museen – kritisch kontextualisiert – gezeigt werden können.
Wie ist es mit einem Denkmal von Alfred Escher, soll man das abreissen?
In Südafrika gab es die Idee, dass man einen Friedhof für Denkmäler errichtet. Dort stehen sie dann, und die Leute, die sich dafür interessieren, können sie anschauen gehen. Wir brauchen eine kritische Debatte darüber, welche Art der Schweizer Geschichte wir haben wollen. Denkmäler müssen meines Erachtens nicht unbedingt zerstört werden. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Freilichtmuseum für Denkmäler?
Verändern die Black-Lives-Matter-Demonstrationen die Bereitschaft, solche Fragen zu debattieren?
Es ist ein guter Start für eine breitere Diskussion. Viele junge Leute waren auf der Strasse, eine postmigrantische Gesellschaft. Ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass die Medien in den letzten Wochen mehr über Diskriminierung und Ungleichheit berichtet haben. Während des Lockdown hatten wir Zeit, über Strukturen nachzudenken und uns Gedanken zu machen, wie wir weiterleben möchten. Die Demonstrierenden gingen raus und haben ein Zeichen gesetzt.
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