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Klimaschutz auf Kredit
Erderwärmung zulassen und auf Technologie hoffen?

Ein Fotograf macht ein Bild in einer Gletscherhoehle am Morteratschgletscher, aufgenommen am Sonntag, 18. Februar 2024, in Pontresina. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller) View of a glacial cave in the Morteratsch glacier, pictured on Sunday, February 18, 2024, in Pontresina, Switzerland. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)
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In Kürze:
  • Für die Politik ist es verlockend, eine Erderwärmung von mehr als 1,5 Grad zuzulassen und die Erde später zu kühlen.
  • 30 Forschende warnen nun vor irreversiblen Schäden bei Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze.
  • Technologien zum Einfang von CO₂ aus der Atmosphäre sollen präventiv entwickelt werden, um Klimarisiken zu mindern.
  • Regierungen sollen sofort handeln, um Emissionen schnell zu reduzieren.

Auf Pump einkaufen und die Schulden samt Zinsen in Zukunft peu à peu zurückzahlen – beim Kreditwesen funktioniert das gut. Und auch beim Klimaschutz ist das eine verlockende Strategie. Denn das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen, gerät zunehmend ausser Reichweite – bereits hat der Mensch die Erde um rund 1,3 Grad erwärmt.

Daher könnte die Politik auf eine Art Klima-Kredit setzen: Heute leisten wir uns einen eher laschen Klimaschutz. In der Folge wird sich die Erde über die angepeilten 1,5 Grad oder gar über 2 Grad Celsius hinaus erwärmen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sollen die heute angehäuften Klimaschulden abgestottert werden, und zwar indem das überschüssige CO₂ mit verschiedenen kostspieligen technologischen Methoden wieder aus der Atmosphäre entfernt wird. Würde das 1,5-Grad-Ziel nur für einige Jahrzehnte überschritten – so die Hoffnung – dann wäre das letztlich halb so schlimm und käme uns am Ende sogar am günstigsten.

Dem widersprechen nun 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem aus der Schweiz im Fachmagazin «Nature» vehement. Denn einige Folgen dieser vorübergehenden Temperaturüberschreitung seien nicht mehr rückgängig zu machen – selbst wenn sich die Erderwärmung nach einigen Jahrzehnten wieder bei rund 1,5 Grad einpendelt.

«Es ist wichtig, im politischen Diskurs nicht nur das Endziel zu betrachten, das heisst, die Stabilisierungstemperatur am Ende des Jahrhunderts», sagt die Klimaforscherin Sonia Seneviratne von der ETH Zürich, Koautorin der Studie, «sondern auch den Weg dahin.»

Ausgerottete Arten kommen nie mehr zurück

Ist zum Beispiel das Eis von Gletschern und Eisschilden wegen einer vorübergehend überhöhten Temperatur erst einmal geschmolzen, wird der resultierende Meeresspiegelanstieg die Küstenbevölkerung dauerhaft bedrohen, selbst wenn die Temperatur wieder zurückgeht.

Sind Arten aufgrund der Erderwärmung einmal ausgerottet, kann kein Klimaschutzprogramm der Welt sie wieder zurückholen. Und haben sich Ökosysteme verschoben und regionale Klimata verändert, hat das dauerhafte Auswirkungen, etwa auf die Landwirtschaft. Bei einer Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze ist während Hitzewellen auch mit zusätzlichen Todesfällen zu rechnen, die niemand mehr rückgängig machen kann.

Fotografen machen ein Bild in einer Gletscherhoehle am Morteratschgletscher, aufgenommen am Sonntag, 18. Februar 2024, in Pontresina. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller) View of a glacial cave in the Morteratsch glacier, pictured on Sunday, February 18, 2024, in Pontresina, Switzerland. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

Szenarien, bei denen sich die Erde vorübergehend über 1,5 Grad erwärmt, hat auch der Weltklimarat (IPCC) in seinem letzten Sachstandsbericht untersucht. Theoretisch ist es demnach durchaus möglich, die Erde nach einer kurzzeitig höheren Temperatur wieder abzukühlen. Und zwar, indem wir nach Erreichen von Netto-null-Emissionen um das Jahr 2050 massiv CO₂ aus der Atmosphäre entfernen. Die Autorinnen und Autoren der aktuellen Studie weisen aber darauf hin, dass der Temperaturrückgang nach einer Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze schwieriger zu erreichen sein könnte als erwartet.

«Es ist momentan überhaupt nicht klar, ob eine derartige Reduktion der globalen Erwärmung überhaupt möglich ist», sagt Klimaforscherin Sonia Seneviratne. Denn die Erwärmung könnte durch starke Rückkopplungen im Erdsystem verstärkt werden, etwa wenn Permafrostböden auftauen, was mit massiven Methanemissionen einhergeht, einem potenten Treibhausgas. «Somit ist eine Überschreitungsstrategie extrem gefährlich», sagt Seneviratne. «Schnelle Reduktionen der CO₂-Emissionen, um das 1,5-Grad-Ziel nicht oder nur geringfügig zu überschreiten, sind deutlich vorzuziehen.»

Je weiter die 1,5 Grad überschritten werden, desto mehr irreversible Schäden

Dies geht auch aus einer im August in «Nature Communications» veröffentlichten Studie hervor: Je höher die Überschreitung von 1,5 Grad ist, desto grösser ist demnach das Risiko irreversibler Ereignisse. So könnte das Grönland-Eisschild komplett zusammenbrechen oder der Amazonas-Regenwald absterben.

Ein weiteres Risiko liegt gemäss der aktuellen Studie in den nach wie vor unsicheren Klimaprognosen: Die Erderwärmung könnte durchaus höher ausfallen, als es der wahrscheinlichste Wert der Simulationen nahelegt. Das Risiko für eine extreme Erderwärmung ist zwar klein, aber die Folgen potenziell katastrophal.

All diese Überschreitungsszenarien stehen und fallen damit, dass die Methoden, um CO₂ nachhaltig aus der Atmosphäre zu entfernen, die sogenannten Carbon-Dioxide-Removal-(CDR)-Technologien, künftig in grossem Massstab zur Verfügung stehen. Dazu gehört der direkte Einfang von CO₂ aus der Atmosphäre und dessen langfristige Lagerung im Untergrund. Auch der Anbau von Biomasse, deren Verbrennung in einem Kraftwerk und das Abscheiden und Lagern der dabei entstehenden CO₂-Emissionen ist eine CDR-Technologie. Ein gewisses Potenzial verspricht auch Gesteinsmehl, das CO₂ aus der Luft langfristig bindet, wenn es verwittert.

Eine Anlage der Schweizer Firma Climeworks in Island, genannt Mammoth, die CO₂ aus der Luft einfängt.

Allerdings sind auch diese CDR-Technologien mit grossen Unsicherheiten behaftet, schreiben die Forschenden. Stehen diese Technologien tatsächlich schnell genug und in ausreichender Menge zur Verfügung? Finden sich genug geologische Speicher für das eingefangene CO₂? Wie nachhaltig wird das CO₂ im Untergrund gebunden? Ergeben sich beim Anbau von Biomasse Konflikte mit der Biodiversität und der Landwirtschaft?

Unsicher sind auch die künftigen Kosten für CDR-Technologien, also gewissermassen der Zins für den Klimakredit: Nur wenn die Kosten für diese Methoden in Zukunft weit genug sinken, geht die Rechnung mit den heute angehäuften und künftig zurückgezahlten Klimaschulden überhaupt auf.

Vorsorge durch Technologie zum Einfang von CO₂

Was tun? Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern eine Art Vorsorge, wie man sie aus dem Gesundheitswesen kennt. Beim Klimaschutz sind das genau diese CDR-Technologien, um CO₂ nachhaltig aus der Atmosphäre zu entfernen. «Obwohl das Potenzial dieser CDR-Technologien momentan noch schwer abschätzbar ist, ist deren Entwicklung sehr wichtig», sagt Seneviratne. «Aber nicht, um ein Überschreiten des Klimaziels zu erlauben, sondern als Absicherung gegen unerwartete Änderungen im Klimasystem, die mit zunehmender Erwärmung immer wahrscheinlicher werden.»

Die CDR-Kapazitäten sollten also präventiv erhöht werden, und zwar höher, als es die Szenarien nahelegen, die bisher dem IPCC zur Verfügung standen. Es soll gewissermassen mehr Geld für die Rückzahlung der Klimaschulden beiseitegelegt werden. Denn der Klima-Zins könnte aus den genannten Gründen in Zukunft deutlich höher ausfallen, als es heute erwartet wird.

Diese präventiv hohe CDR-Kapazität hätte noch einen weiteren Nutzen: Mit ihr liesse sich nicht nur eine unerwartet hohe Erderwärmung bremsen, sondern die Abkühlung der Erde zudem möglichst schnell herbeiführen. Denn je kürzer die Periode über 1,5 Grad ausfällt, desto geringer die Risiken des Überschreitens. Beispielsweise würde ein Jahrhundert über 1,5 Grad den Meeresspiegel um zusätzliche 40 Zentimeter ansteigen lassen, wie die Forschenden schreiben.

Würden die 1,5 Grad zehn Jahre überschritten, wären es nur rund vier Zentimeter. «Das kann den Unterschied ausmachen, ob sich die Menschen an den Anstieg des Meeresspiegels anpassen können oder ob sie tief liegende Gebiete aufgeben müssen», sagt Carl-Friedrich Schleussner vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg, Österreich, leitender Autor der Studie.

Yahir Mayoral and Emily Camacho walk amid the rubble of their grandmother's home, destroyed by flooding driven by a sea-level rise in their coastal community of El Bosque, in the state of Tabasco, Mexico, Thursday, Nov. 30, 2023. (AP Photo/Felix Marquez)

Um die Folgen des vorübergehenden Überschreitens besser abschätzen zu können, brauche es Multimodellexperimente, schreiben die Forschenden in der Studie. Viel mehr verschiedene Szenarien müssten verglichen werden, um die langfristigen Folgen einer temporären Erwärmung über 1,5 Grad weiter zu untersuchen.

Forscherin stellt derzeitige Erdsystemmodelle infrage

Für Nadine Mengis vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, die nicht an der aktuellen Studie beteiligt ist, wäre selbst das noch zu wenig. «Ich würde noch einen Schritt weitergehen, indem ich die Fähigkeit der derzeitigen Erdsystemmodelle zur Simulation solcher Szenarien infrage stelle», schreibt sie in einem Kommentar, der begleitend zur Studie in «Nature» erschienen ist.

Klimamodelle seien zwar gut, um eine Welt mit steigenden CO₂-Konzentrationen zu simulieren. Für Szenarien des Überschreitens müssten sie aber auch eine Welt mit sinkenden CO₂-Konzentrationen und sinkenden Temperaturen korrekt wiedergeben. Wie gut sie das können, sei weniger klar – eine weitere riskante Unsicherheit für die Überschreitung der 1,5-Grad-Schwelle.

«Unsere Arbeit unterstreicht die Dringlichkeit, dass die Regierungen jetzt handeln müssen, um unsere Emissionen zu reduzieren, und nicht erst später», sagt Schleussner. «Der Wettlauf zum Netto-null-Punkt muss als das gesehen werden, was er ist – ein Sprint.»

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